Canis autisticus hystericus: Von der Mülltonne auf die Couch

Von Sophie Strodtbeck

Vom türkischen Lebensraum Mülltonne zum hiesigen Lebensraum Couch. Zu überleben ist so etwas offenbar nur durch die Kombination aus Hysterie und Autismus. Nachdem Sie in den vorigen Ausgaben bereits drei Hunde von Sophie Strodtbeck kennengelernt haben, ist diesmal ihr vierter Hund dran … 

Nachdem meine Hündin Günes ja in keine Schublade passt, musste für sie eine eigene Kategorie gebastelt werden. Und sie ist zweifellos ein CANIS AUTISTICUS HYSTERICUS. Was auch sonst? Sie werden gleich wissen, was ich meine.

Der Canis autisticus ist ursprünglich in türkischen Mülltonnen beheimatet gewesen, wurde allerdings seinerzeit zwangsexportiert und genießt seither auch in hiesigen Gefilden Asylstatus. Da der Autisticus sehr anpassungsfähig ist, hat er den Wechsel vom Lebensraum Mülltonne zum Lebensraum Couch ohne größere Schäden überstanden und fühlt sich seither auf seiner Couch so heimisch, dass er sie nur sehr ungern verlässt. Selbst zum täglichen Spaziergang muss der Autisticus – notfalls unter Androhung von Gewalt! – überredet werden. Selbst dies gelingt allerdings nicht immer.

Der Himmel fällt nicht auf den Kopf
Hat sich der Autisticus dann doch überreden lassen, so lebt er draußen in der ständigen Angst, der Himmel könnte ihm auf den Kopf fallen. Dass der Himmel dies in den letzten 8 Jahren nicht mal ansatzweise getan hat, beruhigt den Autisticus allerdings nicht im Geringsten. Man kann da nie vorsichtig genug sein, Himmel sind einfach unberechenbar, ist wohl seine Meinung.

Der Autisticus lebt meist in seiner eigenen Welt, kann Stunden damit verbringen, den Himmel im Auge zu behalten (sicher ist sicher!) oder Regenwürmer auf charmanteste Art und Weise zum Spiel aufzufordern. Dass die Regenwürmer sich auf das Spiel nicht einlassen wollen, kann der Autisticus bis heute nicht verstehen, wie so vieles andere auch nicht …

Beim täglichen Spaziergang, wenn er denn stattfindet, läuft der Autisticus aus Prinzip mindestens 100 Meter hinter seinem Frauchen, bzw. seiner Couch-Mitbewohnerin – denn ein „Frauchen“ hat der Autisticus nicht (nötig)! Das Einzige, was ihn dann während eines solchen Spaziergangs aus der Reserve locken kann, sind, abgesehen von Regenwürmern, vermeintliche alte Bekannte, sprich völlig unbekannte Menschen, die vom Autisticus begrüßt werden, als würde er seine besten alten Freunde nach 20 Jahren wieder treffen, was meist sehr erstaunte Blicke bei den betroffenen Personen erzeugt. Dass diese begeisterte „Wiedersehens“freude von den meist nicht sehr hundebegeisterten Auserwählten nur selten erwidert wird, stößt den Autisticus vor den Kopf, und er fällt danach in stundenlange Depressionen.

Immer 100-Meter hinterm Frauchen
Durch die „100-Meter-hinterher- Strategie“ des Autisticus vergisst man ihn auch gerne mal irgendwo, z.B. vor der Haustüre. Dies ist dann besonders ärgerlich, wenn man einen Freund in einer Wohnung im 5. Stock hat (ohne Aufzug!) und oben feststellt, dass jemand fehlt. Aber so sorgt der Autisticus für ausreichende sportliche Betätigung des Frauchens, auch wenn ihm selber jegliche sportliche Aktivität fern liegt und er alles, was schneller als im Zeitlupentempo von ihm abverlangt wird, als absolute Zumutung empfindet und ihn wieder in große Depressionen stürzt.

Für den Saufratz allerdings ist der Autisticus eine große Bereicherung, denn während der unterbelichtete Saufratz öfters durch die Gegend strahlend an Büschen vorbeiläuft, in denen sich ganze Rudel von Rehen befinden, fängt der Autisticus, der Rehe annähernd so spannend findet wie Regenwürmer, unvermittelt an, das Gebüsch anzuspielen. Während das Frauchen in diesen Fällen noch erstaunt dreinschaut (obwohl einen mit den Jahren eigentlich nichts mehr, was der Autisticus tut, verwundert), springt das Rudel Rehe aus dem Gebüsch, der Saufratz hinterher, und zurück bleiben ein schreiendes Frauchen und ein zu Tode beleidigter Autisticus, der überhaupt nicht verstehen kann, dass die Rehe solche Spielverderber sind.

Stress an der Isar
Der Autisticus hat es aber auch oft nicht leicht, manchmal verschwört sich die ganze Welt (und der Himmel?) gegen ihn. So kam es, dass der arme Autisticus eines Tages an der Isar aus heiterem Himmel (nein, der böse Himmel schon wieder!) anfing, wie am (Döner-)Spieß schrill zu schreien und völlig hysterisch durch die Gegend zu rennen. Alle Versuche ihn einzufangen scheiterten kläglich. Der Autisticus war dermaßen durch den Wind, als wäre ihm soeben der Himmel persönlich erschienen. Langsam kam auch in mir die Panik hoch, denn es hörte sich an, als befände sich der Autisticus gerade im Todeskampf.

Es blieb mir aber nichts anderes übrig, als den gesitteten Rückzug nach Hause anzutreten- in der Hoffnung, dass der Autisticus mir folgen würde, um in Ruhe auf der Couch zu sterben. Nach gefühlten Stunden wurde es dem Autisticus draußen tatsächlich zu bedrohlich, weil sich inzwischen besorgte Menschenmassen eingefunden hatten, die sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollten. Zu Hause war es dann endlich möglich, den Autisticus, der inzwischen nur noch leise vor sich hin wimmerte, eingehend zu untersuchen – um festzustellen, dass ihm ein KAUGUMMI zwischen den Ballen klebte! Der Autisticus fühlte sich nach dieser prägenden Erfahrung übrigens in seinem prinzipiellen Misstrauen gegen die Welt bestätigt.

Morgendliches Yoga
Eine andere Bedrohung sucht den Autisticus allmorgendlich heim. Es ist sein tägliches Yoga-Ritual, den Tag mit ausgiebigen Streckübungen zu beginnen, wenn er sich denn endlich mal dazu durchgerungen hat, wirklich die Couch zu verlassen. Einer Katze gleich wird der Autisticus dabei fast 3 Meter lang, und jeden Morgen entweicht seinem Popöchen dabei ein ganz leises „Pffffffft“. Und auch jeden Morgen erschreckt sich der Autisticus dabei furchtbar vor sich selbst, schreit, nimmt den Schwanz zwischen die Beine, sodass er vorne wieder rauskommt, und rennt entsetzt ins nächste Eck, um von dort aus misstrauisch jeden Winkel des Zimmers zu beäugen. Danach wird wieder der Himmel abgesucht …

Auch das Fressverhalten des Autisticus ist erwähnenswert. Das zerebrale Hungerzentrum scheint zugunsten des Angstzentrums zurückgedrängt worden zu sein und ist nur sehr rudimentär ausgebildet. So erntet man vom Autisticus nur angewiderte Blicke, wenn man versucht, ihn mit Würstchen oder Ähnlichem aus der Reserve zu locken (während der Saufratz daneben versucht, neue Rekorde in der Länge der Sabberfäden aufzustellen!). Der Autisticus fängt auf der Stelle das Speicheln und Schmatzen an, verzieht die Nase und tut gerade so, als wolle man ihn vergiften! Mit einem Autisticus kann es auch passieren, dass einem wildfremde Leute mitleidig Geld für Hundefutter in die Hand drücken oder man übelst als Tierquäler beschimpft wird. Für einen Döner lässt der Autisticus allerdings alles stehen und liegen und vergisst vorübergehend sogar seine Angst vor dem Himmel.

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