Brustgeschirre: – ­Umdenken erforderlich

 

Die Jenaer Studie über den Gangapparat bzw. das Bewegungsverhalten von Hunden hat Erkenntnisse geliefert, die unsere bisherigen Vorstellungen darüber korrigieren. Das hat große Bedeutung für die Auswahl von Brust­geschirren, die die Bewegung und damit auch das Verhalten unserer Hunde beeinflussen können. Ein umfassender Artikel in zwei Teilen von Tina Müller und Heike Hillebrand über die neuen Erkenntnisse zum hundlichen Gangapparat und ihre Anwendung auf die Auswahl von Brustgeschirren.

Eine Gegenüberstellung: Halsband bzw. schlecht sitzendes Geschirr vs. gut angepasstes, ­qualitativ gutes Geschirr
Die Bedeutung bzw. die Vorteile eines ideal angepassten und gut verarbeiteten Geschirrs für meinen Hund bestehen – ganz allgemein gesagt – in einer Schonung seines gesamten Bewegungsapparates, d.h. aller Gelenke, seiner Wirbelsäule vom Kopfansatz bis zur Rutenspitze, seines Bindegewebes, seines Gangbildes, seiner Organe, Kehlkopf, Schilddrüse, Hautoberfläche und Fellstruktur. In einigen Fällen kann die Umstellung auf ein Geschirr sogar positive Verhaltensveränderungen beim Hund bewirken. Einige Hunde reagieren auf die Umstellung von normaler Halsung zum Geschirr sehr positiv, ihre Körpersprache bzw. ihr Ausdrucksverhalten ändert sich, sie können ohne zu ziehen an der Leine laufen, zeigen weniger Stress. Wie gesagt einige Hunde, nicht prinzi­piell jeder Hund. Die meisten werden auch nach einer Umstellung noch ein Training benötigen, um das erlernte Verhalten wie z.B. erworbene Schonhaltungen abzubauen und ein anderes Verhalten zeigen zu können.

Wie kann ein gut sitzendes Geschirr so etwas bewerk­stelligen?
Jeder ist schon einmal mit den un­angenehmen Konsequenzen einer ungünstigen Druckverteilung in Berührung gekommen. Ein Rucksack, der ungepolsterte Gurte hat, die zudem zu eng oder zu weit eingestellt sind, macht uns Menschen ähnliche Schwierigkeiten wie beim Hund ein schlecht sitzendes Geschirr. Dass sich unser Hals niemals als Sicherungspunkt eignet, versteht sich von selbst. Bei keinem Sicherungssystem der Welt käme man auf die Idee, einen Menschen an etwas so Fragilem wie der Halswirbelsäule zu sichern. Jeder, der schon einmal einen Pullover tragen musste, der einen zu engen Kragen hatte, weiß, wie irritierend schon diese vergleichsweise harmlose Einschränkung sein kann. Die Aussage, dass die Halswirbelsäule des Hundes anders gebaut, stabiler oder unempfind­licher sei, entbehrt jeder Grundlage. ­Tragen wir über einen längeren Zeitraum einen schweren, schlackernden Rucksack, bleibt immer Folgendes zurück – Verspannungen, Blockaden, Schmerzen und ein unangenehmes Gefühl. Ignorieren wir die Schmerzen dauerhaft, sind gesundheitliche Spätfolgen sehr wahrscheinlich.

Unseren Hunden ergeht es ebenso, nur haben sie nicht die Wahl. Wir suchen ihre Geschirre aus, kaufen sie, ziehen sie ihnen an, legen sie damit an eine Leine und üben, je nach Mensch und Hund, über die Leine immense Kraft auf sie aus. Bei den Folgen auf den Bewegungsapparat des Hundes ist es völlig unerheblich, ob der Hund ungestüm in die Leine springt oder der Mensch an der Leine zieht- die unangenehmen Konsequenzen sind dieselben.

Hunde müssen heute, entweder, weil es durch den Gesetzgeber so vorgegeben wurde, oder aus Sicherheitsgründen, an der Leine geführt werden. Das Führen am passenden Geschirr ist nach unseren Erkenntnissen die schonendste Art, den Hund zu sichern. Im Alltag passiert es immer wieder, ob gewollt oder ungewollt, dass Zug über die Leine auf das Geschirr und damit Kräfte auf den Hundekörper wirken. Dies lässt sich situationsbedingt oftmals nicht vermeiden. Trägt der Hund in diesen Situationen allerdings ein gut sitzendes Geschirr, minimieren wir das Risiko, dass er ernsthaft geschädigt wird.

Die Innenseite des Brustgeschirrs
Eine weiche Unterpolsterung wirkt dabei wie ein zusätzlicher Puffer, der die Kräfte, die von außen wirken, schlucken bzw. abfedern kann. Breitere, gepolsterte Gurte schonen das Fell, unterpolsterte Schnallen und Ringe schonen Rippen, Knochen und Haut. Es leuchtet ein, dass ein schma­ler, ungepolsterter Gurt mit evtl. sogar scharfen Kanten sehr unangenehm zu tragen ist und auf Dauer sowohl die Fell- und Hautstruktur schädigt, aber auch einschneiden kann, wenn unser Hund in die ­Leine springt oder wir ihn am Geschirr festhalten. Dass alle harten, stabilen Materialien wie Ringe, Schnallen und Verschlüsse unterlegt sein sollten, ist auch sehr wichtig. Allgemein wäre es sehr unangenehm, diese unflexiblen Materialien direkt ohne Schutz auf dem Körper zu tragen, speziell liegen gerade die Ringe auf den Dornfortsätzen der Rückenwirbelsäule bzw. dem hervorstehenden Brustbeinknochen des Hundes. Dass sie an diesen Stellen wirkliche Schäden hervorrufen könnten, wenn massiver Druck über die Leine aufgebaut wird (z.B. jemand tritt unabsichtlich auf die Schleppleine des Hundes), ist auch leicht zu verstehen. Die Unterlegung der Verschlüsse mindert zudem das Risiko, dass man beim Schließen der Verschlüsse aus Versehen Fell oder Haut einquetscht. Je nachdem, wie und über was wir unseren Hund an der Leine sichern, ergeben sich für ihn teils sehr unangenehme Konsequenzen, und wir haben versucht, einen Großteil davon hier kurz zu erwähnen.

So kann man mit einem gut sitzenden Geschirr viele physische und psychische Probleme und Langzeitschäden bei unseren Hunden verhindern.

Schon mehrfach nachgewiesene physische Schäden beim Hund durch das Tragen einer ungeeigneten Sicherung (Halsband, verkehrtes Geschirr) sind u.a. Quetschungen von Luftröhre, Kehlkopf, Schilddrüse, Halsarterien bzw. Traumatisierung der Hals- und Rückenwirbelsäule, Erhöhung des Augeninnendrucks, was wiederum das Risiko von Glaukombildung erhöhen kann, Beeinträchtigung des Bindegewebes, ausgehend von der Halswirbelsäule bis zur Hinterhand, widernatürliche Hals- und Kopfhaltung mit dauerhafter Schädigung des Bewegungsapparates, Schädigung der Haut- und Fellstruktur, Bildung von Arthrosen durch dauerhafte Fehlbe­lastung und Schonhaltung.

Leider ist es mit den physischen Problemen, die eine ungünstige Sicherung hervorrufen kann, nicht getan, auch psychische Schädigungen sind möglich. So zeigen einige Hunde ein schmerzinduziertes Angst- oder Aggressionsverhalten, ihr Cortisol­spiegel ist durch den Stressor „Schmerz“ erhöht. Dauerhafter Stress kann u.U. zu schweren organischen Problemen führen. Leider kann es auch über Fehlverknüpfungen von Schmerzen und Umwelt wieder zu erhöhten Angst- oder Aggressionsreaktionen kommen. Einige Hunde versuchen zu flüchten, quasi „weg vom Schmerzreiz“, mit der Konsequenz, dass der Schmerz immer mehr zunimmt, was in der Folge zu noch mehr Flucht- und Panikreaktionen führt. Ein Teil der Hunde zeigt in dieser für sie ausweglosen Situation auch die sogenannte „erlernte Hilflosigkeit“ und fügt sich den Schmerzen und unangenehmen Konsequenzen. Diese Hunde machen uns Menschen vielleicht von außen betrachtet die wenigsten Sorgen, sie selbst aber leiden sehr und wirken oft teilnahmslos und depressiv.

Angst oder Aggressionen können gegen den eigenen Menschen, der evtl. mit dem Schmerz verknüpft wird, gerichtet werden. Durch die Technik, wie ein Halter seinen Hund an Leine und Halsung führt, kann das beim Hund eine sehr unnatürliche Körperhaltung hervorrufen (z. B.: Vorne sehr steif und „aufgekröpft“, weil sein Kopf durch die Leine hochgezogen wird). Dies kann von entgegenkommenden Artgenossen fehlinterpretiert werden. Im schlechtesten Fall reagieren diese dann mit Aggression, weil sie das Ausdrucksverhalten nicht richtig einordnen können. Zumindest die genannten körperlichen und viele psychischen Problematiken lassen sich über die Wahl eines wirklich guten, passenden Geschirrs verhindern. Wir können mit wenig Aufwand die Lebensqualität unserer Hunde extrem verbessern, allein durch „Augen auf beim Geschirrkauf“ und dem notwendigen Wissen, auf was es zu achten gilt.

Folgen der Jenaer Studie für die Auswahl von Geschirren
Die Jenaer Studie, eine wissenschaftliche Untersuchung über das Bewegungsverhalten von Hunden, hat die Art, wie wir bisher darüber dachten, fast auf den Kopf gestellt. Das muss daher auch Auswirkungen auf die Auswahl von Geschirren haben. Es ist nun erwiesen, dass Hunde ihre Schulterblätter zur Vorwärtsbewegung drehen. Es ist also zwar nach wie vor sehr wichtig, darauf zu achten, dass die Schultergelenke des Hundes nicht in der Bewegung gehemmt oder eingeengt werden, aber fast noch entscheidender ist nun, dass diese Voraussetzungen für das Schulterblatt ebenso gelten. Dies erreicht man nur über ein Geschirr, das den Bedürfnissen und dem Bewegungsapparat des Hundes ideal angepasst ist. Diese ­Tatsache stellt Geschirre, die große Auflageflächen auf den Schulterblättern des Hundes haben, als ungeeignet dar.

Was zeichnet ein hochwertiges Geschirr aus? Materialien und Passform
Grundsätzlich passt nicht jedes Geschirr in seiner Passform auf den eigenen Hund. Da sind Hunde uns Menschen sehr ähnlich und halten sich nicht an festgelegte Konfektionsgrößen. Doch zuallererst ist es sehr hilfreich, wenn wir genau wissen, was ein hochwertiges Geschirr überhaupt ausmacht. Außerdem müssen wir uns darüber im Klaren sein, wie überhaupt ein Geschirr sitzt, wenn es ideal auf unseren Hund passen soll. Nur wenn uns diese Dinge geläufig sind, können wir unserem Hund ein möglichst perfektes Geschirr kaufen. Er selber ist schließlich auf uns und unser Verantwortungsgefühl angewiesen, wenn er uns einkaufen schickt …

Beginnen wir mit den Materialien; es sollten möglichst strapazierfähige Materialien sein, die bis 30 Grad in der Waschmaschine gereinigt werden können, da ein Geschirr im alltäglichen Gebrauch schnell verschmutzt oder Geruch annimmt. Das Gurtmaterial sollte entweder wasserabweisend oder schnell trocknend sein, weil ein Material, dass sich voll Wasser saugt, sehr unangenehm für den Hund am Körper zu tragen ist und sehr schwer wird. Insgesamt sollte sich das Geschirr stabil, jedoch nicht hart anfühlen und leicht sein. Die Gurte sollten breiter sein, da schmale Gurte eher einschneiden und den Druck nicht so optimal verteilen. Sie sollten außerdem eine gewisse Festigkeit mit sich bringen, damit sie ihre Passform möglichst, auch bei wilder Hundeaktion, halten können und es nicht zu unnötigen Irritierungen durch Verrutschen auf dem Hundekörper kommt. Ein stabilerer Stoff verhindert auch das „Ausleiern“ des Geschirrs, das in der Folge nicht mehr gut sitzen würde. Die Kanten des Gurtstoffs sollten hingegen „weich“ und angenehm anzufassen sein. Einfach mal in die Hand nehmen und mit den Fingern über die Kanten fahren, wenn es sich unangenehm anfühlt oder gar einschneidet, ist es unbrauchbar.

Das Polstermaterial sollte ebenso hochwertig sein wie das Gurtmaterial und die gleichen Kriterien erfüllen, das Material, mit dem gefüttert wird, ist unterschiedlich, oftmals wird ein Fleecematerial genutzt. Insgesamt gibt es viele unterschiedliche Materialien, aus denen Geschirre gefertigt werden, u. a. Cordura, Leder, Neopren, Fleece.

Die Ringe, die verwendet werden, sollten, wie alles andere auch, mit dem Material sehr gut vernäht und auf ihre Zugfestigkeit geprüft sein, sowie aus rostfreiem, nicht-allergenen Metall bestehen. Sie sollten selbstverständlich unterlegt sein, egal ob sie auf der Wirbelsäule oder am Brustkorb angebracht sind. So kann auch beim Sternum (Brustbein) kein unangenehmer Druck entstehen. Die Verschlüsse, die fast ausschließlich aus Plastik gefertigt werden, sollten ebenfalls sehr hochwertig sein, man sollte sie leicht schließen können, sie sollten mit einem deutlichen Geräusch einrasten und sich durch ihren speziellen Mechanismus nicht einfach lösen. Natürlich sind die Verschlüsse und Verstellschnallen bei einem guten Geschirr auch unterlegt, damit sie nicht direkt auf dem Körper aufliegen. Wenn wir uns nun darüber im Klaren sind, was für Materialien ein wirklich gutes Geschirr ausmachen, geht es nun um die Passform.

Passform: Wie sollte ein Geschirr am Hund sitzen?
Erstens ist es schon einmal sehr ­wichtig, dass Ihr Hund das Geschirr in der passenden Größe trägt. Dazu muss er unbedingt vorher ­vermessen werden. Wie man ihn vermessen kann, beschreiben wir in einem ­späteren Punkt. Das Geschirr darf auf gar ­keinen Fall zu klein sein oder einschnüren, aber genauso wenig sinnvoll ist es, wenn das Geschirr zu groß ist und ständig auf dem Hunde­körper hin und her rutscht. Dieses Verrutschen führt zu Irritationen im gesamten Rückenbereich. Wenn das Geschirr viel zu groß ist, besteht außerdem die Gefahr, dass man es dem Hund, wenn dieser nach hinten weg zieht (bspw. durch eine spezielle Vorder­körpertiefstellung oder ein ruck­artiges Buckeln), über den Kopf auszieht und dieser plötzlich ohne Sicherung da steht. Hunde speichern diesen Ausstieg schnell als Lernerfolg ab und es besteht die Gefahr, dass sie diesen „Notausstieg“ zukünftig bewusst einsetzen.

Ein Geschirr sollte so eng am Körper liegen, dass man ohne Probleme einen Finger unter die Gurte schieben kann. Die Halsung des Geschirrs sollte so hoch sitzen, dass sie nicht unterhalb des Brustbeins liegt, aber auch so tief, dass sie nicht auf den Hals, Kehlkopf etc. drückt oder auf den Schulterblättern aufliegt. Gerade im Brustbereich ist eine ideale Lage des Geschirrs unbedingt zu beachten, weil in diesem Bereich oftmals der größte Druck absorbiert werden muss. Bei Geschirren, die nur einen Brust- und einen Bauchgurt haben, sollte man immer darauf achten, dass der Gurt, der vorne über die Brust führt, weder zu hoch noch zu tief sitzt. Er soll auf gar keinen Fall den Hund daran hindern, sich hinsetzen zu können, weil er zu kurz ist oder die Schultergelenke einschnürt. Der Bauchgurt verläuft bei allen Geschirrformen hinter den Schultergelenken. Damit diese sich frei bewegen können, sollte er ­mindestens eine Handbreit hinter dem Schultergelenk bzw. den Schulter­blättern liegen, niemals direkt hinter den Achseln. Hier würde er den Hund extrem in der Bewegung behindern und Fell und Haut aufscheuern.

Dasselbe gilt für die Verschlüsse, ­diese sollten möglichst so hoch sitzen, dass sie weder die Schultergelenke, noch die Ellenbogengelenke und Oberschenkel beeinträchtigen, wenn der Hund sich vorwärts bewegt. Am wenigsten stören sie, wenn sie etwa eine Handbreit rechts und links neben der Wirbelsäule sitzen.

Bedauerlicherweise sind dies alles Punkte, die man nicht zentimeter­genau angeben kann, weil kein Hunde­körper dem anderen gleicht – also Geschirre immer anprobieren! Der Unterbauchgurt, der zwischen den Vorderbeinen verläuft, ist je nach Geschirrhersteller unterschiedlich breit, teilweise überkreuzt. Hier ist es wichtig, zu schauen, welche Passform am besten zu Ihrem Hund passt. Dies hängt u.a. davon ab, wie schmal bzw. breit der Brustkorb Ihres Hundes ist, wie viel Platz zwischen den Vorderbeinen ist, ob evtl. sein Brustbein sehr weit hervorsteht, er eine tiefe oder eine rundliche Brust hat. Für Hunde, die eine Angst-, Aggressions- oder Jagdproblematik haben und draußen schnell in Panik geraten, jagdlich hochmotiviert sind oder aber aggressiv auf bestimmte Umweltreize reagieren, gibt es die Möglichkeit, sie über sogenannte „Sicherheitsge­schirre“ zu sichern. Diese Geschirrform hat sehr oft eine doppelte Sicherung durch zwei hintereinander sitzende Bauchgurte oder durch eine besondere Kreuzung der Gurte, aus denen Hunde nicht so leicht „aus­steigen“ können. An diese Gurte sind die gleichen Qualitätsansprüche zu knüpfen, wie oben beschrieben.

Im zweiten Teil dieses Artikels im nächsten WUFF geht es u.a. um die Ermittlung der passenden „Konfektions­größe“, um Messpunkte und Tipps zum Vermessen, sowie um gängige Geschirrformen.

HINTERGRUND

 

Die Jenaer Studie

Eine Zusammenfassung der Jenaer ­Studie“ und ihre Konsequenzen.

Prof. Dr. Martin S. Fischer, Professor für Spezielle Zoologie und Evolutionsbiologie an der Universität Jena, wollte im Jahr 2006 einen Vortrag über die Fortbewegung des Hundes halten. Bei der Vorbereitung seines Vortrages fiel ihm auf, dass es de facto bislang keine wissenschaftlich belegten Erkenntnisse über dieses Thema gab. Bis dato bekannte Studien hatten sich jeweils nur mit Teilen des Gangapparates oder mit kranken Hunden auseinander gesetzt. So beschloss er, mit Hilfe seines Teams dieser Wissenslücke ein Ende zu setzen. Es sollte eine umfassende Arbeit über die Gelenkwinkelverläufe, Segmentbewegungen, Gangmuster, Schrittlänge, Schrittdauer, etc. des Hundes werden. Nach vier Jahren intensiver Arbeit ver­öffentlichten die Forscher ihre Ergebnisse in einer Studie, die auch als Publikation erschienen ist (s. Literaturkasten).

Die „Jenaer Studie“ zum Gangapparat des Hundes sollte möglichst repräsentativ und vergleichend sein. Man wählte daher etwa 327 Hunde aus 32 Hunderassen aus, die sich in Körpergröße, Winkelung der Gelenke und Rahmen extrem unterschieden. Die Wissenschaftler benutzten für ihre Studie drei Messsysteme, ein Infrarotbewegungsmesssystem, zwei Hochgeschwindigkeitsvideokameras und eine französische Hochgeschwindigkeitsröntgenkamera. Die Hunde wurden von je zwei Hochgeschwindigkeitskameras aus unterschiedlichen Positionen (von vorne und von der Seite) in unterschiedlichen Gangarten (Schritt, Trab, Galopp) aufgenommen. Sie liefen hierfür, nach einer gewissen Eingewöhnungszeit, auf einem genormten Laufband. Während der Untersuchungen legten sie etwa 2-4  Kilometer zurück, und die Aufnahmeprozedur dauerte je nach Hund etwa 45 Minuten.

Das Infrarotbewegungssystem benutzte reflektierende Marker an den Rückenlinien und Gelenkpunkten des Hundes, welche die von insgesamt sechs Kameras ausgesendeten Infrarotblitze zurück warfen. Wurden die Reflektionen eines Markers von jeweils zwei Kameras erfasst, war es möglich, ein dreidimen­sionales Koordinatenbild zu erstellen. Über dieses ließen sich die jeweiligen Gelenkwinkel des Hundes bestimmen.

Die Röntgenkamera machte nun noch die bislang verdeckten und nicht erfassten Strukturen wie z.B. das Schulterblatt des Hundes in der Bewegung sichtbar. Die Erkenntnisse dieser Aufnahmen waren erstaunlich und zeigten, dass so manche Darstellung des Skeletts des Hundes nicht den Tatsachen entsprach. Die Gliedmaßen des Hundes hatten sich im Laufe der Zeit, wie bei allen Säugetieren, von zwei zu drei Segmenten verändert. Bei den Vorderläufen des Hundes hieß das konkret, dass das Schulterblatt als drittes Segment hinzu kam, bei den Hinterläufen wurde der Mittelfuß umgebaut. Bewegt sich ein Hund vorwärts, so entsprechen sich daher jeweils Schulterblatt und Oberschenkel (auf dem Foto lila markiert), Oberarm und Unterschenkel (gelb) sowie Unterarm und Mittelfuß (grün), in der Bewegung.

Spektakuläre Ergebnisse
Eines der erstaunlichsten Dinge, die in dieser Studie entdeckt wurden, wird das Bild, das man sich bislang vom Gangwerk des Hundes machte, und auch viele Diagnosen in neuem Licht erscheinen lassen. So wies man nach, dass der eigentliche Drehpunkt der Vorderläufe das Schulterblatt und nicht, wie bislang immer vermutet, das Schultergelenk ist. Das heißt im Klartext, dass bei der Vorwärtsbewegung des Vorderlaufs sich, entgegen früherer Annahmen, das Schulterblatt dreht, und zwar um etwa 35 Grad. Das Schultergelenk bleibt entgegen allen ­bisherigen Theorien fast statisch unter der Bewegung.

Dies änderte nun auch den Blick auf die Beziehung der oberen Drehpunkte, denn wo sonst in Lehrbüchern das Hüftgelenk auf Höhe des Schultergelenks dargestellt wurde, liegt in der Realität das Hüft­gelenk auf Höhe des oberen Randes des Schultergelenks (siehe Fotos – rote Linie). Hier könnte man gedanklich eine ­horizontale Linie ziehen, um die gleiche Höhe darzustellen.

Durch die Röntgenaufnahmen konnte man sehen, dass sich Schulterblatt/Unterarm und Oberschenkel/Mittelfuß wie parallel geschaltet bewegen. Dieses Prinzip nennt sich „Pantographenbein“. Dieses Fortbewegungsprinzip hängt maßgeblich von der Länge des mittleren Segments ab, beim Hund ist dies der Oberarm. Der Oberarm eines Hundes ist, je nach individueller Größe, ­natürlich unterschiedlich lang, aber in Bezug zur gesamten Länge des Vorderbeins beträgt die Oberarmlänge, laut „­Jenaer Studie“, ganz genau 27 Prozent. Die Länge des Schulterblattes beträgt im Vergleich zur Gesamtlänge des Vorderbeins ­zwischen 24 bis 34 Prozent und ist bei kurz­beinigen Hunden im Gegensatz zu langbeinigen Hunden relativ lang. Die Fortbewegung des Hundes liegt in der Hauptsache an den Proportionen des Oberarms, und da dieser bei allen untersuchten Hunden identisch war, liegt die Folgerung nahe, dass alle Hunde, egal wie groß, ähnlich gehen.

ÜBERBLICK

Teil 1 – in diesem Heft

1) Halsband bzw. schlecht ­sitzendes vs. angepasstes, qualitativ gutes Geschirr in Hinblick auf psychische/­physische Folgen.

2) Zusammenfassung der „Jenaer Studie“ und ihre Konsequenzen in Bezug auf Geschirre.

3) Was zeichnet ein hochwertiges Geschirr aus? ­Materialien und Passform.

Teil 2 – in Heft 12/2012

4) Wie ermittle ich die „Konfektionsgröße“ meines Hundes – Messpunkte und Tipps zum Vermessen.

5) Gängige Geschirrformen, ihre Einsatzbereiche und Vor- bzw. Nachteile.

6) „Trainingsprotokolle“ darüber, wie wir unsere eigenen Hunde an ein neues Geschirr heran „trainiert“ haben.

 

Literatur und Studien

 

– Studie Dr. Anders Hallgren ­„Neck-Throat-Cervical-Injuries Caused by Pulling and Jerks on Flat Buckles“ (1991)

– Dr. Martin S. Fischer und Dr. Karin E. Lilje in der Publikation „Hunde in Bewegung“, Franckh-­Kosmos Verlag, 208 Seiten, Preis: 49,95 Euro,
ISBN 978-3-440-13075-9

– Studie amerikanischer Tierärzte ­„Pressure by a Collar or Harness on Intraocular Pressure in Dogs.“ In: Journal of the American Animal Hospital Association 42:207-211 (2006)

– Panksepp, J. Affective ­Neuroscience: The Foundations of Human and Animal Emotions (Series in Affective Science) (Oxford University Press, USA, 2004)

– Dissertation Andrea Böttjer, TiHo Hannover (2003), Untersuchungen von fünf Hunderassen und einem Hundetypus im innerartlichen Kontakt des Wesenstestes nach den Richt­linien des Niedersächsischen Gefahrtier-Verordnung vom 5.7.2000

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