Für so manchen Hundehalter ist es ein feststehender Glaubenssatz, dass man Hunde richtig auslasten müsse, ihnen sozusagen Action ohne Ende bieten sollte. Agility, Obedience, Dog-Dancing, Man-Trailing, Longieren – der Angebote gibt es viele und sie werden auch zunehmend wahrgenommen.
Doch ist das alles wirklich so gut für den Hund? Tierarzt Ralph Rückert geht dieser Frage nach.
Von Kindesbeinen an ist der Hund eingebunden: Welpengarten, Junghundetraining, Fortgeschrittenenkurs. Der moderne und verantwortungsbewusste Hundehalter ist bestens informiert, hat eine ganze Bibliothek an Fachliteratur und ist in diversen Internetforen aktiv. Kurz: Man – und da nehme ich mich nicht aus – will das Beste für seinen Hund! Schließlich gilt der Satz: Für uns sind es nur ein paar Jahre, für ihn sein ganzes Leben. Aber: Schießen wir eventuell über das Ziel hinaus? Kann man auch zu viel machen?
Bespaßung ist Programm?
Auch wir Tierärzte empfehlen seit Jahren, möglichst viel Mühe und Zeit in den Hund zu investieren. Wir waren maßgeblich daran beteiligt, das Welpengarten-Konzept im öffentlichen Bewusstsein zu etablieren. Auch wir haben brav anerkannten und selbsternannten Verhaltensspezialisten nachgeplappert, dass es ganz sicher ein übles Ende nehmen würde, wenn beispielsweise ein Border Collie nicht von morgens bis abends voll ausgelastet und gefordert wird. Sogenannte Hundeflüsterer wie Cesar Millan fordern stundenlange Spaziergänge (oder sollte ich sagen: Märsche?) in flottem Tempo mit dem angeleinten Hund. Eine ganze Industrie beschäftigt sich inzwischen mit der Erziehung, der artgerechten Beschäftigung und Bespaßung unserer Hunde.
Im Gegenzug, sozusagen als Rendite aus unserer Investition, erwarten wir von unserem Hund nichts weniger als Perfektion. Fröhlich, verspielt, gar ausgelassen soll er sein, aber bitte nur wann und wo es uns und der Gesellschaft recht ist und in den Kram passt. Selbstbewusst und selbständig soll er sein, gleichzeitig aber sklavisch jeden noch so kleinen unserer Befehle befolgen. Perfekt sozialisiert hat er nach unseren ganzen Bemühungen zu sein, der ideale Pazifist, denn wenn er auch nur einmal einen Artgenossen anknurrt, geschweige denn ihn gar beißt, wird er flugs zum soziopathischen Problemhund erklärt, der nur durch umfangreiche Therapiemaßnahmen auf den Pfad der Tugend zurück gebracht werden kann.
Gehen wir eventuell zu weit? Verlangen wir zu viel? Kann es sein, dass wir mit den besten Absichten an den echten Bedürfnissen unserer Hunde vorbei handeln? Es ist nämlich leider so, dass ich ganz subjektiv das Gefühl habe, in meiner Praxis in den letzten Jahren nicht weniger, sondern eher mehr Hunde mit psychischen Problemen zu sehen. Gerade Stress- und Angststörungen scheinen deutlich zuzunehmen, und das ausgerechnet bei den Hunden, wo auf den ersten Blick alles richtig gemacht worden ist.
Es mag also an der Zeit sein, unsere Vorstellungen von dem, was unser Hund will bzw. braucht, auf den Prüfstand zu stellen. Diesbezüglich als hilfreich könnte sich erweisen, dass die Kanidenforschung in den letzten Jahren ihren Blick vermehrt auf das Verhalten und die Sozialstrukturen von Straßenhunden gerichtet hat. Was ist dabei herausgefunden worden? Nun, in erster Linie, dass Hunde, die selbstbestimmt leben, über den Tag gesehen gar nicht besonders viel unternehmen und energieraubenden Anstrengungen eher abhold sind. Klar, bestimmte Dinge müssen sein, als da wären:
– Das Revier muss täglich abgeschritten werden, um die Kontrolle über Futterquellen zu behalten, Konkurrenten zu identifizieren und eventuelle Gelegenheiten zur Weitergabe der eigenen Gene rechtzeitig wahrzunehmen. Dieser Reviergang findet aber keineswegs im Laufschritt statt, sondern eher gemächlich, mit sehr viel Nasenarbeit, sprich Schnüffeln.
– Die Nahrungsversorgung muss sichergestellt werden. Es wird also einiges an Zeit für den Nahrungserwerb und die Zerkleinerung und Aufnahme der Nahrung aufgewendet.
– Bei ausreichendem Nahrungsangebot wird auch mal kurz gespielt, je jünger die Tiere, desto eher.
– Soziale Interaktionen mit anderen Hunden sind gar nicht so häufig wie man denken würde. Andere Hunde können als Konkurrenten (häufig), potenzielle Sexualpartner (schon seltener) oder als Kumpel/Freunde/Spielgefährten wahrgenommen werden. Es werden keine permanenten Rudelstrukturen gebildet!
– Der Rest der Zeit wird mit Ruhen und Schlafen verbracht. Wobei Rest der falsche Ausdruck ist, denn mit bis zu 18 Stunden (!) handelt es sich dabei eigentlich um den Löwenanteil des Tages.
Was also können wir für den Alltag mit unseren Hunden für Schlüsse ziehen?
– Viel Ruhe! Viel mehr Ruhe, als wir Menschen uns je gönnen würden. Und auch wirklich Ruhe in dem Sinne, dass der Hund Gelegenheit hat, sich an einen geeigneten Platz zurückzuziehen.
– Spaziergänge (in den Augen des Hundes: Revierkontrollgänge) sollten weniger nach zurückgelegter Strecke als nach Gründlichkeit bemessen werden. Der Hund sollte Gelegenheit bekommen, sein Revier ausgiebig mit der Nase zu erkunden. Also besser nicht immer strammen Schrittes weiter, sondern sich mehr nach dem Hund richten, ganz besonders, wenn er angeleint ist. Nasenarbeit ist Kopfarbeit und sehr beanspruchend für den Hund.
– Ein Hund muss keineswegs mit allen anderen Hunden zurechtkommen, ohne dass es mal ruppig wird. Andere Hunde sind in seinen Augen in erster Linie Konkurrenten. Hat man ein Exemplar, das dieses Thema ernster nimmt als andere, so sollte man sich nicht einreden lassen, dass es falsch wäre, den Kontakt zu anderen Hunden je nach eigenem Bauchgefühl auch mal nicht zuzulassen oder zu unterbinden. Der weit verbreitete Glaube, die Hunde würden das schon unter sich regeln, hat schon oft zu Tränen, Tierarztbesuchen und Gerichtsstreitigkeiten geführt. Wenn sie (die Hunde) es nämlich tatsächlich arttypisch, also mit den Zähnen, selber regeln, wird das blutige Ergebnis meist gerade von denen, die vorher so locker drauf waren, ganz und gar nicht akzeptiert.
– Überbeschäftigen Sie Ihren Hund nicht! Agility, Mantrailing, Rettungshundearbeit, Flyball, Coursing, Frisbee usw. – das ist alles gut und recht, aber nur solange es nicht eher der Befriedigung des eigenen Ehrgeizes dient als dem Hund. Die Hunde an sich brauchen nicht so viel Action wie wir glauben oder auch glauben gemacht werden. Nehmen wir als Beispiel den berühmten Border Collie, der ja angeblich mehrere Stunden am Tag beschäftigt werden muss, damit er keinen gefährlichen Koller bekommt. Das soll daran liegen, dass er in seiner Heimatregion als hochspezialisierter Hütehund eingesetzt wird und den ganzen Tag vom Schäfer über eine Vielzahl von Pfeifsignalen entsprechend dirigiert wird. Es stimmt schon: Das ist geistige und körperliche Schwerstarbeit. Aber müssen wir das auch nur annähernd kopieren, um diesen Hund zufriedenzustellen? Was macht denn eigentlich ein Border Collie im Winter, wenn die Schafe unter Dach und Fach sind und nicht gehütet werden müssen? Na ja, als typischer Saisonarbeiter ist er in dieser Zeit arbeitslos. Da macht er es im Idealfall wie ein italienischer Straßenhund: Um die Häuser ziehen, was zu knabbern suchen, nach den Mädels oder Jungs sehen und ansonsten rumliegen oder schlafen. Bekommt er deswegen einen Koller? Nö! Einen Koller bekommt er mit viel höherer Wahrscheinlichkeit, wenn er mit bestimmten Tätigkeiten angefixt bzw. angeheizt wird. Dann hat er (wie auch beispielsweise viele Terrier) ganz klar das Zeug zum hyperaktiven Action-Junkie, der gar keine Ruhe mehr findet und schließlich mit psychischen Problemen zu kämpfen hat.
– Übererziehen Sie Ihren Hund nicht! Es sind doch eigentlich ein paar ganz wenige Signale, Befehle, Kommandos, Anweisungen (suchen Sie sich aus, welcher Begriff Ihnen am besten gefällt), die der Hund unbedingt drauf haben sollte, damit er sicher und gesellschaftsfähig geführt werden kann. Wenn Sie ihn zwischendurch auch mal ableinen wollen, muss er auf Signal oder Zuruf zuverlässig zu Ihnen zurückkommen. Angeleint oder nicht sollte er in der Lage sein, sich nah bei Ihnen von Punkt A nach Punkt B zu bewegen. Er sollte sich auf Ihre Anweisung hinsetzen oder hinlegen und an dem gewählten Platz auch mal für eine gewisse Zeit bleiben können. Das war‘s eigentlich schon. Natürlich spricht gar nichts dagegen, dem Hund zum Vergnügen im Lauf der Zeit noch einiges mehr beizubringen, aber machen Sie keinen Stress draus.
Damit wir uns richtig verstehen: Dies soll kein Plädoyer dafür sein, beiden Seiten, also Hund und Halter, Freude bereitende Aktivitäten wie Spiel, Sport, Wandern, Schwimmen oder was auch immer einzustellen. Wir sollten meiner Meinung nach nur immer wieder darüber nachdenken, ob wir eventuell unseren eigenen überhektischen Lebensstil und uns von anderen eingeredete und reichlich überzogene Erwartungshaltungen auf den Hund übertragen und ihn damit rettungslos überfordern. Deshalb: Locker bleiben und bloß keinen Stress!