Wenn Sie dachten, nur Liebe geht durch den Magen, dann wird es Zeit umzudenken. Denn auch das Denken geht durch den Magen. Das zumindest legen uns junge Forschungsergebnisse nahe. Denn der Magendarmtrakt hat dem Gehirn etwas voraus: Er weiß genau, wie es drinnen aussieht. Der Darm wird oft unterschätzt, doch er hat über den Nervus Vagus eine direkte Verbindung zum Gehirn. Stress, Verhaltensstörungen und vieles mehr können ihre Ursache im Darm haben.
"Das Leben besteht in der Bewegung" – dies sagte schon Aristoteles.
Dass er damit Recht hat, findet auch Daniel Wolpert, vielfach ausgezeichneter Ingenieur, Mediziner und Neurowissenschaftler. Er behauptet, der einzige Grund ein Gehirn zu haben ist die Möglichkeit für komplexe und anpassungsfähige Bewegungen. „Bewegung ist die einzige Möglichkeit, die Welt um sich zu beeinflussen. Bewegungen und Schweiß. Es ist wichtig daran zu denken, dass Sensorik, Erinnerung und kognitive Prozesse bedeutend sind, aber sie sind nur wichtig, um zukünftige Bewegungen voranzutreiben oder zurückzuhalten." Als Beispiel hierfür bringt er die Seescheide. Ein einfaches Tier mit einem Nervensystem, das im Meer herumschwimmt, bis es sich auf einem Stein niederlässt. Dort frisst es sein Gehirn und sein Nervensystem auf. „Sobald man sich nicht mehr bewegen muss, braucht man auch den Luxus eines Gehirns nicht mehr."
Leben geht auch ohne
Diese Erkenntnis hat etwas Revolutionäres an sich, denn sie stößt unser gehirnorientiertes Denken in neue Bahnen. Waren wir vor kurzem noch überzeugt, dass allein das Gehirn für alle Wahrnehmung verantwortlich ist, stellt die Forschung erstaunt fest, dass der Darm eine ebenso entscheidende Rolle spielt.
Denn was am Darm bereits optisch auffällt, sind seine im Vergleich zum Restkörper vielen und andersartigen Nerven. Er ist mit unzähligen Signalstoffen, Verschaltungsarten, Nerven- und Isolationsmaterialien ausgerüstet. Dieses Nerven-Netzwerk wird deshalb auch Darmhirn genannt, denn es ist sehr groß und ähnlich komplex wie das Gehirn.
Der Darm und seine Machenschaften
Dieser komplexe Aufbau hat einen ausgeklügelten Zweck. Darm und Gehirn sind direkt verbunden über den Nervus Vagus. Genaugenommen verbindet der Nervus Vagus beim Hund das Gehirn mit dem Herz, dem Atmungsapparat, der Milz, Leber, Bauchspeicheldrüse, Niere, Nebenniere und dem Magen-Darm-Trakt. Über diesen Nerv können Informationen in verschiedene Hirnbereiche wie die Insula, das limbische System, den präfrontalen Cortex, die Amygdala, den Hippocampus oder den anteriore cingulären Cortex gelangen. Beim Menschen sind diese Bereiche grob gesagt für das „Ich-Gefühl", Gefühlsverarbeitung, Moral, Angstempfinden, Gedächtnis und Motivation zuständig. „Das bedeutet nicht, dass unser Darm unsere moralischen Gedanken steuert – es räumt ihm aber die Möglichkeit ein, diese zu beeinflussen." Ist es jetzt also besser den Hund mit Thunfisch- oder Käsepaste zu füttern, damit ihn sein Darm auf die richtigen Gedanken bringt? Denn dass die Verhältnisse im Darm einen Einfluss auf das Verhalten haben, zeigt uns ein Mäuseexperiment.
Die schwimmende Maus
… ist ein Experiment aus der Motivations- und Depressionsforschung. Dabei wird eine Maus in ein kleines Wasserbecken gesetzt, in dem sie mit den Füßen nicht auf den Boden kommt. Dadurch schwimmt sie herum, um auf sicheren Grund zu gelangen. Dabei wird gemessen, wie lange die Maus schwimmt, um ihr Ziel zu erreichen. „Mäuse mit depressiven Eigenschaften schwimmen nicht sehr lange. Sie verharren immer wieder regungslos. In ihren Gehirnen können hemmende Signale scheinbar sehr viel besser durchgestellt werden als motivierende und antreibende Impulse. Außerdem reagieren sie stärker auf Stress." 2011 kam der irische Forscher John Cryan auf die Idee, die Hälfte seiner Probandenmäuse mit dem darmpflegenden Bakterium Lactobazillus Rhamnosus JB-1 zu füttern. „Die Mäuse mit dem so aufgepimpten Darm schwammen tatsächlich nicht nur länger und hoffnungsvoller, in ihrem Blut ließen sich auch weniger Stresshormone nachweisen. Außerdem schnitten sie in Gedächtnis- und Lerntests deutlich besser ab als ihre Artgenossen. Durchtrennten aber die Wissenschaftler den Nervus Vagus, gab es keinen Unterschied mehr zwischen den Mäusegruppen."
Größtes sensorisches Organ
Das Gehirn hat eine absolute Sonderstellung. Es sitzt exponiert am Hals, von wo aus es sich mit der ganzen Umgebung beschäftigen kann. Zu seinem Schutz ist es deshalb gut verpackt in einem knöchernen Schädel und dicker Gehirnhaut. Außerdem wird jeder Tropfen Blut, bevor er ins Hirn gelangt, noch einmal zusätzlich gefiltert. Im Gegensatz dazu befindet sich der Darm mitten im Körper. Er kennt alle Moleküle aus unserem letzten Essen, fängt herumschwirrende Hormone neugierig im Blut ab, fragt die Immunzellen nach ihrem Tag oder lauscht andächtig dem Surren der Darmbakterien. Diese Informationen sammelt der Darm mit Hilfe seines beachtlichen Nervensystems und seiner Fläche. Er ist das größte sensorische Organ des Körpers. Augen, Ohren, Nase oder Haut sind nichts dagegen. Ihre Informationen gelangen ins Bewusstsein und werden dazu benutzt, um auf die Umwelt reagieren zu können. Sie sind damit so etwas wie Einparkhilfen, wenn es um unser Leben geht. Der Darm dagegen ist eine riesige Matrix – er empfindet unser Innenleben und arbeitet im Unterbewusstsein. Informationen aus dem Körperinneren erhält das Gehirn vom Darm und das von Anfang an.
Was der Darm dem Gehirn sagt
So hat eine Studie aus der Zusammenarbeit von Stockholm und Singapur gezeigt, dass die Darmmikrobiota die Entwicklung des Gehirns und dadurch das Verhalten beeinflusst. Wobei festgestellt wurde, dass die Darmmikrobiota das Level von Adrenocorticotrophic Hormonen (ACTH) bei jungen Mäusen verändern kann. ACTH wird oft als Antwort auf biologischen Stress produziert. Weiter wird ausgeführt, dass die Darmmikrobiota möglicherweise sowohl Synaptophysin und PSD-95 (Proteine auf der DNA) im Striatum (ein Teil der Basalganglien, die zum Großhirn gehören) während einer sensiblen Periode der Synaptogenesis (Entwicklung der Synapsen) regulieren. Weshalb die Regulierung dieser Proteine durch die Darmmikrobiota zu einer langfristigen Anpassung von synaptischen Übertragungen, welche die motorische Kontrolle und ängstliches Verhalten im erwachsenen Leben beeinflussen, führt. Die Studie kommt zum Schluss, dass die perinatale Periode (Zeitraum kurz vor, während und kurz nach der Geburt) kritisch ist für diese möglichen Entwicklungen. Sie schließt daraus, dass es am Beginn des Lebens eine sensible Phase für die Darmmikrobiota gibt, die das spätere Gehirn und das Verhalten beeinflusst.
Aber auch über den Nervus Vagus könnte der Einfluss der Darmmikrobiota auf das Gehirn erklärt werden. Nämlich durch die Veränderung der Transmitter (wie Serotonin, Melatonin, Histamine) ist es möglich, dass die Darmbakterien den Serotoninhaushalt bereits in der frühen Nachgeburtzeit mitsteuern. Was sehr interessant ist, da eben diese Neurotransmitterbahnen die Nahrungsaufnahme, den Knochenbau und Verhaltensweisen im Gehirn mitmodellieren. Zusätzlich wird die Vermutung geäußert, dass die Darmbakterien die Expression von Risikogenen (Wie die genetische Information zum Ausdruck kommt) beeinflussen oder die kognitiven Funktionen von Patienten mit Magendarmerkrankungen verändern.
In epidemiologischen Studien (Studien über menschliche Bevölkerungsgruppen, die den Zusammenhang zwischen einer Erkrankung und einer bestimmten Ursache erforschen) wurde gezeigt, dass Infektionen durch mikrobische Krankheitserreger während der perinatalen Periode zu Nervenstörungen wie Autismus und Schizophrenie, aber auch zu Verhaltensstörungen wie angstähnlichem Verhalten und beeinträchtigter kognitiver Funktionen führen können.
Um so einen großen Einfluss auf das Gehirn zu nehmen, müssen Darm und Hirn von Anfang an eng zusammenarbeiten. Es wird schnell ersichtlich, dass das Wohlbefinden im Bauch auf das allgemeine Wohlbefinden des Welpen einen großen Einfluss hat. Die größte Ruhe und Zufriedenheit entsteht bei einem Wurf, wenn die Welpen sich Seite an Seite an den Zitzen der Mutterhündin bedienen. Auch der Mutterhündin scheint dies instinktiv klar zu sein, denn sie widmet den größten Teil ihrer Zeit dem Säugen, Lecken (wobei der Welpenbauch massiert wird) und dem Säubern der Welpen. Dieser Wohlfühlbereich wird in den ersten Wochen stark über das Innenleben wahrgenommen. Denn erst zwischen dem 10. und 13. Lebenstag öffnen sich die Augen und Ohren und eine langsame Orientierung nach außen findet statt. Natürlich wird die Verbindung zwischen Hirn und Darm jetzt nicht aufgegeben, doch die Einwirkung des Darms wird schrittweise subtiler.
Gereizter Darm
Von der „schwimmenden Maus" weiß man, dass die Darmbakterien einen großen Einfluss auf das Wohlbefinden des Gehirns und somit auf das Verhalten haben. Mit Menschen hat man 2013 ähnliche Studien durchgeführt und festgestellt, dass ein Mix von Bakterien die Gehirnareale der Gefühls- und Schmerzverarbeitung in vier Wochen deutlich verändert. Bei einem anderen Experiment konnte man nachweisen, dass ein gereizter Darm sehr belastend sein kann. Man blies bei Probanden einen kleinen Ballon im Darm auf und machte gleichzeitig Bilder der Hirnaktivität. Bei beschwerdefreien Personen wurden normale Hirnbilder erstellt. Bei Personen mit gereiztem Darm konnten deutliche Aktivitäten im emotionalen Hirnbereich aufgezeichnet werden, in dem sonst unangenehme Gefühle verarbeitet werden. Die Patienten fühlten sich schlecht, obwohl sie gar nichts Schlimmes getan hatten. Hunde sind keine Menschen. Mäuse sind keine Hunde. Trotzdem dürfen solche Resultate zum Nachdenken anregen und neugierig machen auf zukünftige Behandlungsmethoden, nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für das Verhalten.
Beim Reizdarm-Syndrom spürt man häufig ein unangenehmes Drücken oder Gluckern im Bauch und tendiert zu Durchfall oder Verstopfungen. Betroffene leiden überdurchschnittlich häufig unter Angstzuständen oder Depressionen. Solche gereizten Därme können durch Mikroentzündungen, schlechte Darmflora oder unentdeckte Nahrungsmittel-Unverträglichkeiten entstehen. Leider sind alle diese drei Ursachen sehr schwer festzustellen.
Stress
Auch Stress gilt als einer der wichtigsten Reize, die Darm und Hirn miteinander verbinden. Denn bei Stress fühlt das Gehirn ein großes Problem und will es lösen. Denkleistungen brauchen viel Energie und die borgt sich das Gehirn vom Darm. Der Darm wiederum fährt sein System runter. Beim Hund können viele verschiedene Aspekte zu dieser Form von Stress führen. Zum Beispiel der Nachbarshund, mit dem er Dauerstreit hat, ein Ball bei Hunden mit übertriebenem Spieltrieb (Balljunkies), die ständige Aufmerksamkeit vom Halter oder ein hektischer Lebensstil mit wenigen Ruhephasen. Hunde sind zu außerordentlichen Denkleistungen fähig, das beweisen sie tagtäglich im normalen Zusammenleben und bei außerordentlichen Arbeitseinsätzen. Aber sie sind „noch nicht" so kopflastig wie der Mensch. Sie verarbeiten Erlebtes, lernen aus Erlebtem auch im Nachhinein und sind in der Lage, verschiedene Informationen zu verknüpfen. Menschen, die mit ihren Hunden arbeiten und auf ihre Leistung angewiesen sind, wissen das und räumen ihnen zwischen ihren Arbeitseinsätzen viel Freizeit zum Ausruhen und Hundsein ein.
Umgekehrt führt auch ein Zuwenig an Bewegung und Auslastung bei Hunden zu Stress. Ein häufiges Problem, das Dr. Nicholas Dodman, Tierarzt und Verhaltenstherapeut, bei seinen Kaniden-Patienten beschreibt, ist eine Mischung aus zu wenig körperlicher und geistiger Auslastung und zu viel Hochleistungsfutter. Hunde, die mit Futter im Energielevel aufgeputscht werden, aber kein Ventil für diese Energie haben, können leichter Verhaltensprobleme entwickeln. Wenn permanenter Raubbau am Darm durch das Gehirn betrieben wird, führt das früher oder später zu Störungen. Denn in stressreichen Phasen wird der Darm weniger durchblutet, verwendet weniger Energie zum Verdauen und produziert weniger Schleimstoffe. Doch die Immunzellen schütten immer mehr Signalstoffe aus, die das Darmhirn sensibilisieren und die Reizschwelle herabsetzen. Weiter vermuten Darmforscher, dass Stress im Darm zu veränderten Lebensbedingungen führt, die andere Bakterien überleben lassen als zu entspannten Zeiten. Das hieße außerdem, dass unser Darm imstande ist, uns auch über die akute Stressphase hinaus die ungute Stimmung spüren zu lassen. Der Hund reagiert vielleicht „unbewusst" (Darm-gesteuert) auf Situationen mit Meide- oder Aggressionsverhalten, weil er in ähnlichen Situationen einfach zu viel Stress erlebt hat.
Diese These unterstreicht wieder ein Mäuseexperiment, durchgeführt von Stephen Collins. Er verwendete zwei verschiedene Mäusestämme, die einen erkundungsfreudig und mutig, die anderen ängstlich und schüchtern. Er verabreichte allen Mäusen einen Antibiotikamix, um sämtliche vorhandenen Darmbakterien auszulöschen, und flößte dann den mutigen Mäusen die Darmbakterien der ängstlichen und umgekehrt ein. Im folgenden Verhaltenstest waren die Rollen der Mäuse wie vertauscht. Die vorher mutigen Mäuse wurden ängstlicher und die ursprünglich ängstlichen Mäuse mutiger. Was uns solche Testergebnisse nahelegen, ist, dass Essen in psychologischer und physiologischer Hinsicht hygienisch sein sollte. Damit ist gemeint gutes, ausgewogenes Futter, das den Darm und den Körper pflegt, sowie stressfreie Essenszeiten. Der Hund soll täglich und in Ruhe seine Mahlzeit bekommen und auch sonst keiner übertriebenen Belastung ausgesetzt werden.