(Aus)gewandert nach Georgien

Von Wili Ruth

St. Gallen, 15. Februar 2017: Aufbruch! Dem vorangegangen sind ein Coaching, und an dessen Ende ein Traum: Ich sitze am Tisch direkt am Fenster, Blick nach Westen zurück, in einem Haus ganz aus Holz und schreibe. Der Traum kehrt wieder. Und wieder, ich könnte das Haus zeichnen, so klar sehe ich es. Ich weiß weiter nichts außer: Es steht in Georgien. Und –wir sind hierher gewandert. Ich bespreche mich mit meiner Coachin, dann kündige ich meine Stelle, meine Wohnung, veranschlage mal zehn Monate, plus/minus: Wir machen das – mein Hund Homer und ich.

Es geht los. Die Hundeapotheke enthält für alles etwas, was der Tierarzt und ich uns an »homerschen Eventualitäten« vorstellen konnten – Augen (bekannt), Ohren (wäre Neuland), Magen-Darm (sehr bekannt), steriles Verbandszeug, dazu Pawz-Schutzballone und viel Polster- und Elastikverband (die Leishmaniose hatte ihn seine eigenen Pfoten anfressen lassen), Schmerzmittel, Antibiotikum, Hautemulsion usw. Zeckenschutz und Entwurmung natürlich, Alopurinol (gg. Leishmaniose) für drei Monate und ein Rezept für den Rest der Reise. Natriumchlorid, Jodsalbe, Vitamine, Zeolith (ein dauerhaftes Nierenmedikament will ich Homer nicht geben). Mein Hund ist noch fern davon, komplett genesen zu sein, aber der Arzt traut ihm die Reise zu. Giardien, nahtlos ein Coronavirus, Leishmaniose und obendrauf ein schier tödlicher Schlangenbiss liegen hinter ihm. Wir haben sorgfältig trainiert seit meinem Entschluss. Das Jahr hat an uns beiden gezehrt, aber wir haben nun Zeit, umfassend aus dem Krankheitsmodus zu kommen, liegen doch ca. 2000 Kilometer Fußweg vor uns: Ans Schwarze Meer und von da aus weiter nach Georgien soll‘s gehen!

Abseits von ausgetretenen Wegen
Erst waten wir wie Kleb-Asseln (Anm.: Kleine träge Tierchen) der Sicherheit entlang auf dem Jakobsweg österreichwärts, durch kniehohen Schnee und Regen. St. Anton unterbietet alles, so ein Graus – aber wenn unser Weg da durchführt …! Dann klart es auf, erste innere Fesseln reißen: Wir verlassen den Plan und fangen an, frei nach Osten zu wandern, selbst wenn uns Osten nach Süden führt. Italien, Slowenien, Kroatien. Alles noch bekannt, doch dann liegt Bosnien vor uns, und Serbien. Einen serbischen Zuhälter (ich erwähne die Nationalität, weil er sich gebrüstet hat damit, dass Serben die besten Liebhaber seien) bin ich nur mit Mühe losgeworden in Kroatien, er wutschnaubend, ich äußerlich ruhig, meinen treuen Homer an meiner Seite. Der hätte keine Sekunde gezögert, den Mann anzugehen, wenn dieser meine gezogene Grenze nicht respektiert hätte. Nicht dass ich Homer je beigebracht hätte, mich zu verteidigen oder es von ihm erbitten würde!

Ich nehme an, das happige erste gemeinsame Jahr hat uns zusammengeschweißt. Homer blüht auf, nach anfänglichem Zusatzstress über das täglich Neue. Aus dem dünnhäutigen, dauerkranken Hund wird ein ernster und bisweilen verspielter. Tief verbunden und eigenbrötlerisch wandern wir zwei Wesen und schauen aufeinander. Einmal, in Kroatien, muss ich ihn von zwei Herdenschutzhunden befreien, in die er hineinläuft, weil er mich hinter den Hunden sieht und um mich fürchtet. Ich prügle auf die beiden Bären ein, bis sie mir Homer wiedergeben – ganz!

Bosnien nun, und Serbien
Ich mit »machoiden Balkan-Vorbehalten«. Aber davon kriege ich nicht viel mit, stattdessen öffnet uns ein verwahrlostes Kätzchen, dem ich ein Zuhause verspreche, eine Türe zu den beiden Ländern und auf einmal werden wir eingeladen von tierliebenden Menschen aus dem halben Balkan. Ostwärts! In Italien war der Winter vorbei und Homer durfte seinen Rucksack mit dem Winterzeug loswerden, vor Bosnien sogar Zelt und Schlafsack. Wir sind in ein Vertrauen gewandert, das uns sicher von Übernachtungsmöglichkeit zu Übernachtungsmöglichkeit reicht. Liebevoll unterstützt, wo immer wir Hilfe brauchen, spazieren wir inzwischen mit bescheidenem Rucksack einfach noch die letzten paar hundert Kilometer ans Meer. Die Apotheke ist angebraucht, aber ohne schlimmen Notfall, und immer war es möglich, sie wieder zu ergänzen. Ich bin inzwischen dünn wie Draht, Homer umgekehrt ein »Bullterrier von einem Podenco«, so muskulös.

Letztes Land vorm Meer, Bulgarien!
Wir haben Durst hinter uns und Minengürtel. Der Herbst bricht an, nun laufen wir noch schwungvoll aus, ehe der zweite Teil unseres Abenteuers beginnt – Georgien, das Land, von dem ich geträumt habe. Aber Bulgarien wird nicht flockig, denn wir sind müde, die Menschen kommen mir kalt vor. Homer frisst nicht recht. Es gibt Tage, da trotten wir von Dorfanfang zu Dorfende und fühlen uns, als hätten wir einen Marathon hinter uns. Bis ich auch innerlich verlangsamen kann. Da fängt es an, wieder Freude zu machen. Wackeln wir eben langsam! Es wird – noch langsamer. Ein Gewitter ist angesagt und ich ändere spontan unsere Wanderrichtung, um nicht mittendrin zu landen so ohne Ausrüstung – da werden wir drei. Ein schwarzes Knochengestell von Hund kriecht über die Straße auf uns zu und zwischen meine Beine und ich heul los ob dem Elend. Wir sind Hunderten von Streunern begegnet, auch Tieren in schwierigen Verhältnissen. Ich habe geholfen, wo und wie ich konnte, aber so ein Hilferuf … Homer hatte je nach Lust mit Streunern gespielt, gelegentlich wanderte einer auch mal ein Stück mit, aber jedes Mal wirkte Homer glücklich, wenn wir wieder zu zweit waren. Just the two of us … Der Prinz und die Landstreicherin.

Homer toleriert stoisch, dass ich seine doppelte Notfallration verfüttere. Das schwarze Tier frisst den Staub mit von der Straße. Ich verspreche Homer ein leckeres Abendessen und dass wir was Gutes finden als neue Notfallration (so weit bin ich nach anfänglicher Panik, zu verhungern: Je zwei Futterrationen für uns müssen dabei sein, mehr nicht. Abendessen und Frühstück. Dann können wir viele Kilometer weiterwandern und Essen organisieren). Zehn Kilometer gehen wir noch an jenem Tag, und der Schwarze stakst uns nach. Aber diesmal hält Homer Mal für Mal an, wenn der Schwarze zurückbleibt – der muss mit! Homer, mein stolzer »nur du und ich-Hund« fällt eine Entscheidung, für die ich noch weitere 36 Stunden und ein Gespräch mit meiner Coachin brauche. Und so wird Homer der wissende große Bruder des überdrehtesten, verschusseltsten Wesens, das mir je begegnet ist. Pluto. Pluto kennt nichts. Keinen Anstand, keine Richtung, keinen Halt. Meine Beine sind blau, so verpeilt rast er an der Leine in jede Richtung gleichzeitig, als er zu Kräften kommt. Er hat kein Schmerzempfinden, ich trete ihm wohl täglich ein Dutzend Mal auf die Füße. Als er zum ersten Mal verschreckt aufschaut, als das passiert, könnte ich weinen vor Glück. Unterwegssein wird zur Herausforderung mit dem Tier, Unterkommen zur noch größeren – Pluto mutiert panisch zum Spinnentier, wo eine Türschwelle vor uns liegt.

Auf und Ab von Emotionen
Homer zeigt Eifersucht, der Neue nimmt endlos Raum ein. Wenn wir den Aufbruch schaffen: Ein paar wenige Kilometer vorwärtskommen; Futter Futter Futter besorgen; uns irgendwie in ein Haus kriegen. Dann ist nur noch Rudelliegen dran, wir alle restlos am Anschlag. Innige Verbindung – Homer auf der einen Seite, Pluto auf der anderen. Mir ist zum Heulen vor Erschöpfung und unfassbar glücklich in Einem. Wir erreichen das Schwarze Meer in einem einzigen Auf und Ab von Emotionen. Der Moment kommt, in dem Homer alleine und als Erster den weißen Strand betritt, majestätisch auf den höchsten Punkt schreitet und auf das große Wasser vor uns schaut. Aber nun hat das Leben uns den erhabenen Moment doch noch beschert. Und dann rast Pluto heran, der mittlerweile spielt wie ein Belämmerter, unverhofft im Paradies gelandet alles Verpasste nachholt. Mein pures Herz Pluto, der den ernsten Homer zu einem roten Pfeil im Wind macht. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein … Nun nordwärts! Bis eines Novembertages ein weißer Streifen am Horizont auftaucht – Varna!

Ich miete ein kleines Appartement, denn schnell kommen wir hier nicht weg. Pluto braucht Impfungen, Titer und Papiere. ­Kochen! Kuscheln. Ich schreibe viel und wir können endlich ordnungsgemäßer an Plutos Erziehung arbeiten. Eines Tages, nach drei Stunden Kreisen am Hafen, steht Pluto zum ersten Mal still da, das Schwänzchen peitscht einen Moment lang nicht. Was für ein Durchbruch! Zwei Freundinnen schicken mir für Georgien das Heimgeschickte und einen nigelnagelneuen Rucksack für Pluto. Der hockt mit schräggelegtem Kopf da mit dem Ding auf: Was machen wir jetzt? Pluto hat keinen Plan von gar nix, aber wenn einer 200% dabei ist, dann er! Wir erhalten die Gelegenheit zu lernen, auf ein Schiff zu gehen und üben, wann immer unser Freund Hristov, ein Kapitän, der sein Schiff in Varna überwintert, da ist. Mich reißen unsere Fortschritte in den Himmel. Und ich schaue in die Hölle, als ich in einem hirnverbrannten Moment von purem Egoismus das Leben meiner Samtpfoten gefährde. Wann endlich können wir weiter? Und als wäre das alles nicht genug, fliegt mir das Ende unserer Reise um die Ohren: Pluto hat eine kupierte Rute, das ist in der Schweiz verboten …

Es wird Mitte April, bis wir endlich auf ein Schiff dürfen und am 16. April 2018 stolpern wir in Batumi an Land. Georgien! In einer neuen Welt, deren Schrift ich nicht kenne, geschweige denn deren Sprache. Ich lerne erste Brocken. Taste mich fühlend heran, wo mein Haus aus Holz liegen könnte, das Haus, von dem ich geträumt habe. Dazwischen machen wir Strand und Boulevard unsicher, einen sieben Kilometer langen Grüngürtel, der Stadt und Meer trennt. Allein dafür liebe ich diese Stadt! Sammle farbige Steine, während die Hunde mit Streunern um die Wette tollen. Einen Monat nach Ankunft packe ich unser aller Rucksäcke, wir brechen auf! Durch den Süden Georgiens, beginnend mit Adjarien. Irgendwo da an der Seidenstraße, so mein innerer Kompass, liegt es. Das üppige Grün Adjariens verleibt uns ein. Ich süchtig danach. Und dann liegt da Keda, ein großer kleiner Ort, wo ich zwei Tage bleiben will, einkaufen, mit Herzverbundenem skypen. Ich finde ein kleines Hotelzimmer neben der Post und – jemand klopft an meine Scheibe. Eine Frau reicht mir eine Handvoll Hund mit leuchtend gelben Augen durchs Fenster. Sie hat uns im Dorf gesehen und dachte, dass die Kleine es gut haben werde mit uns.

Ich hab Achterbahn. So sehr ich Pluto liebe, mit und auch für jede seiner Verrücktheiten, ich bin gefordert! Noch eine Dritte? Mimi, so nennt die Frau sie, wanzt sich zu Pluto an den Bauch, Kleinbaby zu Großbaby. Mimi zu behalten, bedeutet, dass wir nicht weiterwandern können, denn sie ist viel zu jung dafür! Mich schwurbelt‘s und ich entscheide – für Mimi. Und mache, so kalt erwischt, aus der Not eine Tugend, beginne, mich um die bedürftigen unter den Streunern vor Ort zu kümmern. Wo wir eh warten … Finde eine Wohnung, den Winter bleiben wir Minimum. Ein angefahrener Streuner heilt bei uns aus und wird kurz darauf von einem deutschen Paar auf Weltreise adoptiert. Dann bevölkern vier verwaiste, einmonatige Welpen unser Bad und bald die ganze Wohnung. Meine Nachbarinnen beißen sich auf die Zähne ob der Frau, die da sieben Hunde hält – es knirscht im Zwischenmenschlichen. Und langsam, langsam dringt durch, dass wir hier wohl bleiben. Nicht nur den Winter über, wer weiß, wann die Winzlinge ein Zuhause finden … Klar ist, ich werde sie nur geimpft und kastriert abgeben!

Keda, ein Ort, den ich nie gesucht habe
Es wachsen Freundschaften und ich habe zu lernen, wie anders dies hier ist als ich es von meinem Umfeld in der Schweiz kenne. Ich kämpfe mit Georgisch, ringe weiter in Wellen damit, dass ich doch zu »meinem« Haus wandern wollte. Es gibt hier Häuser, die ihm so ähnlich sehen! Da oben irgendwo, am Godertsipass, muss es liegen …! Ich fühle mich aufgehalten, aber das Leben scheint zu wissen, was es tut. Noch ist der Winter nicht vorüber, spielt es mir zu, was ich für Pluto brauche: Ein Arbeitsangebot von unserem Tierarzt, das mir ermöglicht, eine einjährige Aufenthaltsbewilligung zu beantragen – Plutos Ausnahme-Einreiseerlaubnis in die Schweiz! Und als alle Kleinen vermittelt sind (es dauert bis August), miete ich ein Auto und wir erkunden endlich Georgien! Mimi, Pluto, Homer und ich, zum allerersten Mal in Originalbesetzung. Was! Für! Ein! Land! Und was für ein Gefühl, es endlich zu sehen nach 16 Monaten da! Vier AbenteurerInnen in einem einzigen Atemholen … der große Kaukasus mit den 5000ern, Wüste, Steppen … bis keine Luft mehr in mir Platz hat. Bis es genügt, es ruhig wird in mir, ich loslassen kann. Mich plötzlich auf mein Keda freue, auf meine FreundInnen dort. Wir wenden und nehmen in weicher Melancholie den Rückweg auf. Und wieder führt das Leben uns warm an der Hand. Lenkt mich da durch, wo ich auf der Hinfahrt in unser Abenteuer mit Schlucken eine Grenze gezogen, ein Tier, das kurz vorm Aufgeben war, bloß mit Futter zurückgelassen hatte.

Dies war unser Monat, das Land zu sehen
Keine Pflege, kein Gebundensein, Abenteuer! Und nun lenkt das Leben mich unversehens noch einmal an der Stelle vorbei. Ich erkenne sie! Halte an, rufe. Das Tier hat tatsächlich drei weitere Wochen überlebt. Wie ist mir ein Rätsel, es vermag kaum zu gehen, ist spindeldürr… Ich habe keine Ahnung, wie ich es anstellen soll, einen vierten Hund in unseren kleinen Pajero zu kriegen, nicht mit Homer. Aber irgendetwas in mir weiß es doch, macht alles richtig, weil ich hier zuständig bin und nicht hadere damit. Und noch was klappt: Ich schalte nicht auf Notfall um, dieses Tier lernt ab Moment eins bei uns zu genießen. Es werden sechs glückliche Monate mit Motsekvave. Mit ihm und noch mal neu einem kleinen Dreibein und einem noch mal zurückgekommenen Welpen. Als wir im Mai 2020 die Heimreise in die Schweiz antreten, muss Motsekvave bleiben, er hat noch die Quarantäne vor sich. Er wird eventuell sein Leben lang behindert bleiben und so entscheide ich, für meine Mimi ein neues Zuhause zu suchen. Jung, menschenliebend und pragmatisch, wie sie ist, wird sie einen Wechsel packen – dann kann Motsekvave zu uns kommen. Er noch, er muss da raus, anders möchte ich unsere lange Reise nicht abschließen.

Buchtipp

Für alle, die das Abenteuer in voller Länge lesen möchten, gibt es jetzt die ganze Geschichte in Buchform:

»(Aus)gewandert nach Georgien. Wie ich vom Bodensee ans Schwarze Meer ging und beinahe nicht mehr zurückfand«

In vierbeiniger Begleitung zu Fuß und ohne festen Plan oder irgendwelche Sicherheiten loslaufen, dem eigenen Tempo und der Intuition folgend. So ging es los für Ruth Wili. Gemeinsam mit ihrem Hund Homer brach sie in St. Gallen auf mit dem Vorhaben, zu Fuß ans Schwarze Meer zu wandern und von dort aus mit dem Schiff überzusetzen nach Georgien. Dort wollte sie eine kleine Weile bleiben und schreiben, und dann zurückkehren.

Für Ruth Wili, geboren 1981, war das Reisen schon immer eine große Leidenschaft, am liebsten zu Fuß. Und noch lieber ohne Karte oder Plan, um so direkt wie möglich der Natur wie den Menschen zu begegnen, die ihr oft von den schönsten Wegen, den besten Plätzen und die interessantesten Geschichten erzählten.
Nach Wanderungen in Südfrankreich und Rumänien kündigte sie ihre Stelle wie ihre Wohnung und brach zusammen mit ihrem Hund auf in ein neues Abenteuer.

Knesebeck Verlag
272 Seiten mit 90 farbigen Abbildungen
ISBN 978-3-95728-452-5
Preis: 18,- Euro

 

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