Günter Wamser und Sonja Endlweber wollen quer durch den amerikanischen Westen reiten. Über 5.000 km durch Wüsten und Berge, von Washington nach Texas. Für die beiden Abenteurer ist dies nicht die erste große Reise zu Pferd. Seit über 15 Jahren sind sie bereits mit ihren vier Mustangs unterwegs, gemeinsam sind sie von der mexikanischen Grenze bis Alaska geritten. Doch ein Mitglied im Team ist neu: Charlie, eine junge Border-Aussi-Mix Hündin bekommt gerade einen ersten Eindruck von dem Abenteuerleben, das auf sie wartet.
Der Schnee knirscht unter unseren Stiefeln. Hier, im Norden Washingtons ist Mitte März vom Frühling noch nichts zu spüren. Ich fröstle und ziehe meine Daunenjacke enger. Wortlos stapfe ich neben Günter den Hang hinauf. In der Hand vier Halfter, im Bauch ein mulmiges Gefühl. Zweieinhalb Jahre sind vergangen, seit wir Dino, Lightfoot, Rusty und Azabache, unsere vier Mustangs zuletzt gesehen haben. Ende Oktober 2019 haben wir uns hier auf dieser wunderschönen alten Ranch in Wauconda, Washington, von den Pferden mit dem Gedanken verabschiedet, dass wir sie bald wiedersehen würden. Doch dann kam Corona und die Einreise in die USA war nicht mehr möglich. Statt 5 vergingen 30 Monate.
Das Wiedersehen
Eigentlich sollte ich voller Freude auf das Wiedersehen den Hang hinaufspringen, doch in die Vorfreude mischen sich Ängste und Zweifel. Wie werden unsere Pferde reagieren? Wie geht es ihnen? Haben sie sich verändert? Sind sie alt geworden? Ich werfe Günter einen Seitenblick zu. Auch er sieht ernst aus. Konzentriert suchen seine Augen den Horizont nach unseren Pferden ab. Charlie, die unvermittelt an mir hochspringt, reißt mich aus meinen Gedanken. »Nicht springen«, schimpfe ich sie, allerdings nur halbherzig, denn es macht einfach zu viel Freude, ihre Begeisterung zu sehen. Für unsere junge Border-Collie Hündin ist alles völlig neu und aufregend. Sie war 2019 noch nicht dabei, ja noch nicht einmal geboren. Erwartungsvoll blickt sie mich an, dann beißt sie ungeduldig in den Zweig, den sie mir gebracht hat und lässt ihn auf meine Füße fallen. Ich grinse kopfschüttelnd. Charlie hat nicht die geringste Ahnung, was auf sie zukommt. Bisher war ihr Leben aufgrund der Einschränkungen durch Corona sehr beschaulich verlaufen, mit ausgedehnten Spaziergängen und vielen Routinen. Doch ab jetzt wird es definitiv abwechslungsreicher.
Erst vor zwei Tagen sind wir in Seattle gelandet. Es war Charlies erster Flug. Wir haben sie darauf vorbereitet, so gut es nur ging. In den Wochen davor haben wir dafür gesorgt, dass sie sich in ihrer Transportbox so richtig wohlfühlt. Außerdem hat sie natürlich ihr Lieblingsspielzeug – ein kleines rosa Schweinchen – mitnehmen dürfen. Trotzdem waren ihre ersten Schritte auf amerikanischem Boden vorsichtig und misstrauisch. Erst als sie realisierte, wer gerade ihre Box geöffnet hat, war sie vor Freude über das unverhoffte Wiedersehen kaum mehr zu bändigen. Das ist es wohl, was der Mensch so am Hund liebt, diese grenzenlose Freude.
Sie sind die Alten geblieben
»Schau«, flüstert Günter, auch er ist stehen geblieben. Ich folge seinem Blick und halte unwillkürlich den Atem an. Ganz oben am Horizont stehen Pferde. Auch wenn ich sie jahrelang nicht gesehen habe, ihre Silhouetten sind unverkennbar. Dort oben stehen Dino, Azabache und Lightfoot. Und ein wenig versteckt hinter ihnen, Rusty. Günter pfeift seinen Lockruf, und obwohl die Pferde zu weit entfernt sind, glaube ich zu erkennen, wie sie die Ohren spitzen. Sie springen zwar nicht ausgelassen umher wie ein junger Hund, doch immerhin laufen sie auch nicht davon. Ich vergrabe meine Nase in Rustys Mähne und atme tief ein. Und mit diesem Atemzug sind all meine Sorgen und Ängste wie weggeblasen. Erst jetzt wird mir bewusst, wie sehr mir dieser Geruch gefehlt hatte. Rusty lässt meine Liebkosungen mit stoischer Ruhe über sich ergehen, wie immer. Die Pferde sind noch genau die Alten, mit all ihren liebenswerten Eigenschaften und Macken.
Es fühlt sich an, als hätten wir uns erst gestern von den Pferden verabschiedet. Wie verflogen erscheint die lange Wartezeit dazwischen. Wir freuen uns über jede kleine Charaktereigenschaft, die wir wiederentdecken. Eigenarten, die uns früher geärgert hatten, nehmen wir jetzt gutmütig und gelassen mit den Worten: »Ganz der Alte!« Zu unserer großen Erleichterung kommt Charlie von Anfang an gut mit den Pferden zurecht. Sie versteht schnell, dass diese nun zu unserem Rudel gehören, ohne dabei den Drang zu entwickeln, sie zu hüten. Es ist gut, dass sie nicht die geringste Angst vor ihnen hat, allerdings hat sie auch das naive Vertrauen eines jungen Hundes, dass alle anderen Lebewesen ihr gut gesinnt sind. Einige Male halte ich den Atem an, wenn Charlie unbeschwert unter den Pferdebäuchen durchläuft oder mit der Nasenspitze direkt an den Hinterhufen anstupst. Und wenn ich im Sattel sitze, springt sie seitlich am Pferd hoch, um mir ihr Spielzeug zu zeigen. Zum Glück sind unsere Pferde so tolerant und gelassen. Sie sind Hunde gewöhnt, auf der Ranch haben sie mit drei Australien Sheperds zusammengelebt und in den Jahren zuvor waren sie gemeinsam mit unserer Jack-Russell Hündin Leni unterwegs gewesen. Trotzdem bedanke ich mich in den ersten Wochen immer wieder bei den Pferden dafür, wie geduldig und rücksichtsvoll sie mit unserem jüngsten Teammitglied umgehen.
Unrealistisch, unvernünftig und ein bisschen verrückt …
Charlie genießt die Freiheit, die sie auf der Ranch hat. Sie freundet sich mit den Ranch-Hunden an. Auch den jungen Kälbern und Schweinen, die alle frei umherlaufen dürfen, begegnet sie neugierig, aber mit Achtsamkeit. Es macht unheimlich viel Spaß zuzusehen, wie sie die Welt entdeckt. Wir quartieren uns in dem alten Pferdetrailer ein, den wir Matt und Brechelle abgekauft haben. Für Charlie scheint es keine Rolle zu spielen, wo sie abends schläft, Hauptsache sie ist bei uns. Auch einen alten Pickup Truck haben wir erstanden. Von Deutschland aus übers Internet. Wir haben uns diesmal für ein eigenes Fahrzeug entschieden, denn das, was wir in diesem Jahr vorhaben, bedarf einiger Logistik. Überhaupt sind unsere Pläne für dieses Jahr etwas unrealistisch, unvernünftig und vielleicht auch ein bisschen verrückt, aber so beginnen ja fast alle großen Reisen.
Die Idee entstand an einem grauen, trüben Wintertag, nahezu perfekt geeignet, um waghalsige Pläne zu schmieden. Günter saß vor seinem Computer und seufzte. Seit Tagen sammelte er Informationen darüber, wie wir unsere Pferde nach Deutschland holen könnten. Denn nach 1 ½ Jahren Pandemie war für uns klar, dass wir nie wieder so lange von ihnen getrennt sein wollen. Unsere Mustangs sollen Europa kennenlernen. Den Kontinent, von dem vor über 400 Jahren ihre Vorfahren nach Amerika segelten. Außerdem sind wir es unseren Pferden schuldig, dass wir uns auch dann noch um sie kümmern, wenn sie zu alt geworden sind, um gemeinsam auf dem Trail unterwegs zu sein. Wir wissen, wie wertvoll die Zeit mit einem betagten tierischen Freund sein kann und wollen sie nicht missen.
»Von Wauconda nach Texas sind es 5.000 km«, sagte Günter kopfschüttelnd. »Es macht einfach keinen Sinn, sie so weit zu fahren.« Er hatte zuvor herausgefunden, dass Pferde am günstigsten von Dallas, Texas, nach Deutschland fliegen. »Das stimmt«, sagte ich zögernd, »Es macht wirklich keinen Sinn, sie so weit zu fahren.« Günter sah mich skeptisch an. Ich wusste, dass er bereits von einem langen Ritt durch Europa träumte, während ich die Freiheit des amerikanischen Westens noch nicht aufgeben wollte. »Also doch reiten«, sagte Günter zweifelnd und ich konnte das breite Grinsen nicht unterdrücken. Ich wusste, wenn der Gedanke einmal in seinem Kopf war, würde er ihn nicht wieder loswerden!
Wir haben einen Plan, oder?
Von Washington über Oregon, Kalifornien, Nevada, Utah, Arizona, New México nach Texas. Auf dem Fußboden in unserem Wohnzimmer breiteten wir Landkarten aus, zogen Linien, markierten Routen, verwarfen sie wieder, malten neue und verwarfen auch diese, während Charlie es großartig fand, dass wir uns nun auch auf ihrer Ebene befanden und uns immer wieder ein Spielzeug mitten auf die Karte legte, als ob auch sie bei der Routenplanung mitreden wollte. Zwei Weitwanderwege drängten sich auf: Der Pacific Crest Trail, der im Westen der USA von der kanadischen bis zur mexikanischen Grenze führt, und der Arizona-Trail. Doch zwischen diesen beiden Trails liegen die Wüsten Nevadas. Obwohl hier die größten Herden Wildpferde der USA leben, schien es uns unmöglich, diesen Bundesstaat im Sattel zu durchqueren. Zu karg und trocken ist die Vegetation und im November, wenn wir Nevada erreichen würden, viel zu kalt. Früher würden wir die Grenze Nevadas nicht erreichen können, denn im Nordkaskaden-Gebirge in Washington liegt noch bis Mitte Juli viel zu viel Schnee. Diesmal bin ich es, die den Kopf schüttelt. »Nevada können wir vergessen«, sage ich frustriert. »Da kann man nicht durchreiten.« Günter sieht mich an und grinst. Irritiert runzle ich die Stirn. »Ich habe gerade eine sehr interessante Seite entdeckt«, antwortet er verschmitzt. Wenige Tage später befinden wir uns in einem Zoom Call mit Samantha. Sie hat Nevada bereits dreimal mit ihren Pferden und ihrer Hündin Juniper durchquert. »Come, stay with me!«, fordert sie uns auf. »Wozu bis Juli warten? Hier in Silver Springs kann man das ganze Jahr über reiten.«
Und so wirbeln wir unsere Pläne einfach durcheinander. Wir werden durch Nevada reiten, aber nicht im November, sondern bereits im Mai, nachdem wir im März und April unsere Pferde dank Samanthas Gastfreundschaft in Silver Springs, Nevada, trainiert haben. Anschließend können wir immer noch Richtung Norden reiten, und auch Oregon und Washington kennen lernen, bevor wir uns auf den Weg nach Arizona machen. Unsere Reisepläne werden dadurch zwar etwas komplizierter, aber dafür können wir so viel Zeit wie möglich mit unseren Pferden unterwegs sein. Und es gibt nichts, wonach wir uns mehr sehnen.
An einem bitterkalten Morgen Anfang April laden wir unsere Pferde in den Trailer und fahren Richtung Süden. Rund 800 Meilen, drei Tage Fahrzeit liegen vor uns. Wir haben Heu und Wasser für die Pferde dabei, alles andere wird sich ergeben. Charlie hat es sich auf der breiten Rückbank bequemt gemacht. Nach den mit Spiel und Spaß ausgefüllten Tagen auf der Ranch scheint sie gar nichts dagegen zu haben, drei Tage lang zu schlafen. Auch die Pferde nehmen die Reise erstaunlich gelassen. Bei jedem Zwischenstopp strecken sie neugierig ihre Nüstern aus den Fenstern und saugen die fremden Gerüche ein. Ich wüsste zu gerne, was in ihren Köpfen vorgeht. 2 ½ Jahre haben sie in Wauconda verbracht, so lange waren sie noch nie zuvor in ihrem Leben an ein und demselben Ort gewesen. Unsere Pferde waren Vagabunden, genau wie wir. Sehnen sie sich so wie wir danach, wieder unterwegs zu sein?
Am dritten Tag der Fahrt rollen wir über die Grenze nach Nevada. Seit Stunden haben wir keinen Baum mehr gesehen. Die Landschaft ist karg, trocken, öd und heiß. Jetzt wird uns erst so richtig bewusst, worauf wir uns eingelassen haben. Denn Nevada ist vor allem eins: Wüste. Und auf den ersten Blick wirken diese Steppen und Wüsten wie ein trostloses Stück Erde auf uns. Erst während der nächsten Tage würden wir eine erste Idee von der Schönheit der Naturlandschaften und ihrer Reize bekommen.
Doch an diesem ersten Tag in Nevada zweifeln wir sehr an unserer Entscheidung. Dürfen wir all das unseren Tieren, den Pferden und vor allem Charlie zumuten? Wie können wir sicherstellen, dass unsere Tiere hier immer gut versorgt sind? Bei unserer Ankunft in Silver Springs hat es 27 Grad. Für uns bedeutet das einen Temperaturunterschied von rund 30 Grad zu Washington. Wir wollten in den Frühling und sind im Hochsommer gelandet. Charlie springt sofort in den Wassertrog der Pferde. Günter und ich werfen einander einen Blick zu. Ich brauche meine Sorgen gar nicht erst auszusprechen. »Wir müssen niemandem etwas beweisen«, beruhigt mich Günter. »Wenn es für die Pferde oder für Charlie nicht passt, dann hören wir eben auf und gehen woanders hin.« Während der nächsten Tage gibt das Wetter uns keine Zeit, uns an die Hitze zu gewöhnen. Es schlägt um und schickt Schneeflocken in die Wüste. Ein Vorgeschmack für Extreme, die uns hier erwarten?
In Silver Springs fängt die Vorbereitung der Reise nun erst so richtig an. Bei unseren täglichen Ausritten gehen wir jeden Tag einen Schritt weiter. Zunächst nur mit zwei Pferden, damit Charlie sich langsam an die vielen Hufe gewöhnen kann, dann nehmen wir die Handpferde mit, legen Packsättel auf, und schließlich kommen die Boxen dazu. Während der ersten Tage wechselt das Wetter ständig von einem Extrem ins andere. Mal ist es sonnig und warm, dann wieder eiskalt, und dann gibt es die Tage, an denen der Sturm über der Wüste tobt, den Sand aufwirbelt und ihn waagrecht vor sich hertreibt. Es sind Tage, an denen wir am liebsten nicht vor die Tür gehen würden. Denn der Sand schmerzt in den Augen und auf der Haut. Auch die Pferde tun uns leid und wir versuchen immer wieder, ihnen Windschatten zu bieten. Nur Charlie hat mit den Wetterkapriolen keine Probleme, solange es nicht zu heiß wird. Ihre Unterwolle schützt sie gegen die Kälte, denn nachts sinkt die Temperatur immer noch weit unter den Gefrierpunkt und als einzige von uns scheint sie sogar den Wind zu mögen.
Durch Nevada wollen wir dem American Discovery Trail folgen, einem Weitwanderweg, der von Küste zu Küste quer durch die USA führt. Die Strecke durch Nevada ist rund 500 Meilen lang und überquert 14 Bergketten. Uns erwartet ein ständiges Auf- und Ab, über schneebedeckte Berge und durch weite, trockene Täler, in denen Salbeisträucher wachsen. Während Günter die Hufe der Pferde beschlägt, versuche ich die Proviantplanung zu erstellen. Doch diesmal ist es nicht der Proviant für uns Menschen oder Charlie, der mir Kopfzerbrechen bereitet, sondern der »Proviant« der Pferde.
Wir sind schon Tausende Kilometer mit unseren Mustangs geritten. Doch noch nie waren wir in einem Gebiet unterwegs, in dem es so wenig Futter gibt. Die Wasserversorgung lässt sich noch einigermaßen sicherstellen, denn es gibt Quellen und Viehtränken, doch das Gras wächst viel zu spärlich, um die Pferde ausreichend zu versorgen. Bisher haben wir Gebiete wie Nevada immer gemieden. Wir waren nur dort unterwegs, wo die Pferde ausreichend Futter und Wasser finden konnten, denn wir wollten unabhängig und autark sein. Doch nun sind wir neugierig darauf, was diese Landschaft, die so wenig Ablenkung bietet, mit uns machen wird. Aber wir müssen sicherstellen, dass die Pferde jeden Abend Heu bekommen. Wir können nur kurze Etappen autark unterwegs sein. Als wir letzten Winter einem befreundeten Fotografen von unseren Plänen erzählten, hat er spontan angeboten, unseren Support zu übernehmen. Wolfgang wird an strategisch wichtigen Stellen Heu liefern. An den Tagen dazwischen bekommen die Pferde Heu-Cubes.
Am 1. Mai war es dann soweit. Während der ersten Tage hatten uns auch zwei Freunde, Johannes und Paul, begleitet, um Filmaufnahmen zu machen. Denn diesmal wollen wir unsere Reise nicht nur in Fotos festhalten, sondern auch in Form eines Dokumentarfilms erzählen. Vorausgesetzt, es gibt etwas zu erzählen. Aber das werden wir bald schon herausfinden.
Lesen Sie im nächsten WUFF, wie es den beiden Abenteurern, Border Collie Charlie und den vier Mustangs auf ihrer großen Reise Richtung Europa geht.