Alltagsgeschichten: Gemeinsame Lebensschule

Von Margret Janus

Bullterrier-Rüde Gehrmann war zum dritten Mal in ­seinem Leben Witwer geworden. So sollte für ihn wieder eine vierbeinige Partnerin ins Haus ­kommen, er war es nicht anders gewöhnt. Was für eine Hündin dann tatsächlich ins Haus kam, war ganz anders als geplant. WUFF-Leserin Margret Janus aus Schleswig-Holstein erzählt die Geschichte einer gemeinsamen Lebensschule von Mensch und Hund.

Der alte Gehrmann war nach dem Tod von Lulu wieder ­Witwer geworden. Doch sollte eine neue Partnerin für ihn zugleich auch meinen Schmerz lindern helfen, so wie es Lulu vermocht hatte, nachdem das Wilmchen über die Regenbogenbrücke gehen musste. Lulu stammte wie ihre Vorgängerin aus dem Tierheim. Doch während Wilmy dort nur wenige Monate verbringen musste, waren es bei Lulu – mit ­kurzen Unterbrechungen – ganze acht Jahre! Ihre langjährige Betreuerin hatte die Pitbull-Hündin aus ­Frankfurt zu uns nach Schleswig-Holstein ­kutschiert. Zum Abschied beschwor sie mich noch, „Wenn es nicht klappen sollte, hole ich sie nächstes Wochenende wieder ab."

Einige zwingende Fragen
Doch ihre Sorge erwies sich als unbegründet, denn Lulu und ich waren bereits zu einer Einheit verschmolzen. Dass uns nur 28 gemeinsame Monate bleiben würden, ahnte damals noch niemand. Jeder Tag mit Lulu war ein Geschenk. Auch wenn ich nur kurz den Raum verließ, begrüßte sie mich bei meiner Rückkehr jedesmal mit einem unnachahmlichen „Grinsen". Sie tat alles, um mir zu gefallen. Unterwegs begegnete sie selbst dem unleidlichsten Kläffer mit freundlicher Gelassen­heit. Wahrscheinlich spürte sie, wie sehr ich Streit zwischen Hunden verabscheue. In der gesamten Zeit, die wir zusammen hatten, hat sie nur einmal gebellt, als meine Mutter nach einer längeren Reise heimkam und ein Taxifahrer das Gepäck ins Haus trug.

Als Lulu tot war, blutete meine ­Seele aus. Ich bestand nur noch aus Pflichterfüllung. Dieser Zustand sollte quälend lange anhalten. Weil die Tierheime, besonders was die geächteten Kurzhaar-Rassen angeht, permanent überquellen, sollte es wieder eines dieser „unerwünschten" ­Geschöpfe sein, das jedoch vom Alter her zum greisen Gehrmännchen passen ­musste. Doch es kam anders.

Junge Not-Hündin eines Junkies in Frankfurt
Meine Frankfurter Tierschutz­freundin berichtete mir von einer gerade mal 15 Monate alten Not-Hündin, die dringend ein intaktes Zuhause brauchte. Ein Drogenabhängiger hätte sie als Welpe angeschafft, angeblich, um seinen Alltag mit ihrer Hilfe zu strukturieren. Als die Hündin ein halbes Jahr alt war, „verschwand" sie anlässlich eines Urlaubs für rund drei Monate in Kroatien. Da die Mutter des Mannes – er wohnte noch bei seinen Eltern – darauf bestanden hatte, den Hund registrieren zu lassen, konnte der kroatische Halter schlussendlich ermittelt werden. Er hatte die halbverhungerte, von schlimmen Verletzungen gezeichnete Kreatur damals unter einem Holzstoß entdeckt. Wäre er nicht in Begleitung seines kleinen Enkels gewesen, hätte er höchstwahrscheinlich kurzen Prozess gemacht und eben keinen Tierarzt aufgesucht, der den Chip ausgelesen hat. Das tat er nun, und damit war der Hund in der kroatischen Datenbank registriert.

Nur dem massiven Druck seiner Mutter ist zu verdanken, dass der Junkie schließlich nach Kroatien fuhr, um die Hündin zurückzuholen. Er hatte sie nämlich „aus seiner Lebensplanung gestrichen", was die Vermutung nahelegt, dass die junge Hündin eben nicht durch die offenstehende Terrassentür seiner Ferienwohnung entwischt war, als er unter der Dusche stand, wie er seine Rückkehr ohne Hund erklärte.

Jedenfalls brachte er die Hündin zurück, doch weil er „die Töle" nicht in seiner direkten Nähe dulden wollte, sperrte er sie in den Flur. Nur die Mutter kümmerte sich um das Tier, obwohl sie ganztags berufstätig war. Mit ihr pflege ich noch heute losen Kontakt. Der Sohn hat sich übrigens nie nach dem Verbleib der Hündin erkundigt, nachdem sie mir gebracht wurde.

Stress bei erster Begegnung
Nach dem Verlust meiner Lulu, mit der ich Glückseligkeit pur erlebte, beschert mir das Schicksal nun einen Hund, der vom Charakterbild nicht gegensätzlicher hätte sein können als ich wollte. Hatte Lulu mir unterwegs jeden Wunsch von den Augen abgelesen, starrte Funny draußen zwanghaft in die Ferne. Sie befand sich ständig auf dem Sprung, so als würde von irgendwoher ein ersehntes Startsignal ertönen. Hätte sie sich nicht anstandslos mit dem hochbetagten Gehrmann und später mit unserem Buben, ebenfalls Tierheimhund, vergesellschaften lassen, wer weiß, ob ich meinen eigenen Grundsätzen treu geblieben wäre. Es tat weh, dass sie mich anfangs als lästiges Übel betrachtete. Eine Kostprobe von dem, was mich künftig erwartete, erhielt ich prompt.

Wie bei jedem Neuankömmling hatte ich die erste Nacht allein mit ihr in der Stube verbracht. Bislang hatte das stets wundervoll funktioniert. Nach einer Weile rollte sich der Hund auf seinem Lager zusammen, während ich über ihn wachte, bis auch mich der Schlaf übermannte und alles war gut. Dies aber nur kurz. Wie ein gefangenes Wildtier lief Funny nun stundenlang im Zimmer auf und ab. Dann bestieg sie meine Unterschenkel. Mein empörter Aufschrei hinderte sie nicht daran, ihre Daumenkrallen in mein Fleisch zu bohren, so dass ich ihr reflexartig eine knallte. Damit war ein Grenzpfosten im wahrsten Sinne des Wortes „eingeschlagen", obwohl ich körperliche Gewalt ablehne. Doch Funny legte sich daraufhin tatsächlich wieder hin.

Vertäuung statt Leine …
Die Folgezeit sprengte jede Dimension, was die Vorhersehbarkeit hundlichen Verhaltens angeht. Nach wenigen Wochen hatte ich kaum mehr einen Knochen im Leib, auf den ich nicht schon gestürzt war, wenn Funny urplötzlich Jagd auf ein vorbei­huschendes Irgendwas machte und ich über sie oder ihre Leine stolperte. Auf meine gezielte Nachfrage hin wurde mir erklärt, dass man Funny früher mittels Laserpointer gemütlich vom Sessel aus beschäftigt hätte. Auch die Spaziergänge wurden dereinst stets nach dem gleichen Muster gestaltet: Man fuhr ins Grüne, ließ den Vierbeiner frei und wartete so lange, bis er irgendwann wieder auf der Bildfläche erschien. Angeblich sei es unmöglich gewesen, Funny angeleint auszuführen. Dünne Leinen hätte sie sofort zerbissen, weshalb man sie mir bei der Übergabe an einem Seil präsentierte, mit dem ein Ozeanriese hätte vertäut werden können.

Hätte ich Monate später nicht tatsächlich Leute beobachtet, die ihren Hund mittels fahrendem Pkw „spazieren führen", wären wohl weiterhin etliche Fragen offengeblieben, u. a. wer macht denn so was? Denn Funny verfügte eindeutig über der­artige Erfahrungen. Dabei handelte es sich offenkundig um verschiedene Fahrzeugtypen, sodass sie sich das jeweilige Motorengeräusch einprägen ­musste. Als „man" ihrer über­drüssig war, hat „man" möglicherweise Gas gegeben, und der Hund ist bis zur totalen Erschöpfung hinterher gerannt. Das wäre zumindest eine Erklärung dafür, weshalb Funny bis heute auf so ziemlich alle Pkws mehr oder weniger stark fixiert ist.

Während der langen Heimfahrt ins neue Zuhause hatte sie sich offenbar den Klang von unserem Wagen gemerkt. Als mein Mann am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit an uns vorbeifuhr, hatte ich plötzlich ein kreischendes Monster an der Leine, das seine Verzweiflung noch immer aus sich herausschrie, als das Auto längst am Horizont verschwunden war. Zum Glück saß das Geschirr passgenau, sodass sie sich nicht daraus befreien konnte. Es war der Beginn einer schweren Prüfung für uns beide. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich sie von nun an beschützen und versorgen würde. „Ich lasse dich nicht im Stich. Versprochen."

Konzentration & Nervenstärke
Hatten meine Hunderunden bislang der Entspannung gedient, waren jetzt volle Konzentration und gesamter Körpereinsatz gefordert, gepaart mit einer riesigen Portion Nervenstärke. Zwar beherrschte Funny recht bald die Grundkommandos, die wir regelmäßig in unserer Halle übten, doch ein vorbeiflatternder Vogel, ein Rascheln im Laub, tollende Eichhörnchen, streunende Katzen, flüchtende Rehe, Kaninchen, Mäuse – und sie war kaum mehr zu bändigen.
Auf der Straße lösten lange Zeit lärmende Kinder, landwirtschaftliche Fahrzeuge sowie hochtourig fahrende Kleinkrafträder ihren Fluchtreflex aus.
Sie wird Gründe für ihre Angst gehabt haben, denn kurz nachdem sie unser Hund wurde, mussten wir ihr einen gesplitterten hinteren Backenzahn herausoperieren lassen. Ohne Fremdeinwirkung wird der ganz sicher nicht kaputt gegangen sein.

Die Hündin nach entsprechender Vorbereitung zu Trainingszwecken im Park anzubinden, um sich schrittweise von ihr zu entfernen, bewirkte ein brüllendes Etwas, das sich kaum beruhigen ließ. Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, bis sie mir vertraute.

Früher fing sie beim Anblick größerer Hunde regelmäßig an zu jammern, als wollte sie sagen, „Bitte tu mir nichts." Geblieben ist eine erhöhte Aufmerksamkeit bei Sichtkontakt. Allerdings achte ich grundsätzlich darauf, dass ihre Individualdistanz nicht unterschritten wird. Denn irgendwie müssen ihre recht spezifischen Narben an Bauch und Brustkorb entstanden sein. Und kann ich wissen, ob der andere friedlich bleibt? Das Risiko ist mir einfach zu groß.

Gang durchs Horrorkabinett
Bis vor fünf Jahren gestaltete sich der etwa hundert Meter lange Weg zu unserer damaligen Garage wie ein Gang durchs Horrorkabinett. Stress, Stress und noch mehr Stress. Funny zerrte wie besessen an der Leine und war weder durch optische noch durch akustische Reize zu erreichen. Doch saß sie erst im Auto, löste sich dies schlagartig. Ob wir ihre diesbezüglichen Ängste haben abbauen können, vermag ich nicht zu sagen, weil wir nun in einem neuen Haus wohnen und mein Mann unseren Pkw direkt neben dem Hintereingang parken kann. Wenn ich jedoch morgens mit ihr zu Fuß in den Betrieb gehe, jammert sie schon lange nicht mehr hinter dem vorbeifahrenden Wagen her.

Unsere Mitarbeiter kennen die ­Hündin vom ersten Tag an nur mit einem ausgesprochen freundlichen Wesen, das sich nach dem morgendlichen Begrüßungsritual auf einen seiner Liegeplätze verkrümelt, um hin und wieder abzuprüfen, ob es noch immer liebgehabt wird. Funny braucht ihr Rudel und körperliche Nähe wie jeder ihrer Artgenossen. Daheim verhält sie sich (die Anfangsschwierigkeiten einmal ausgeklammert) tadellos. Sie hat noch nie Mobiliar angeknabbert, auch bellt sie nur, wenn sie dafür einen nachvollziehbaren Grund hat. Gibt sie im Betrieb während der offiziellen Öffnungszeiten selten einen Laut von sich, schlägt sie nach Feierabend oder am Wochenende Alarm, was völlig in Ordnung ist, denn sie lässt sich auf Kommando beruhigen.

Durch gemeinsame Lebensschule
Im Februar feiern wir Funnys zehnten Geburtstag. Sie läuft übrigens pro­blemlos an einer 10m-Flexi-Leine. Daran, dass sie jemals eine zerbissen hat, wie es mal geheißen hat, können sich weder mein Mann noch ich erinnern. Funny und ich sind durch eine hammerharte Schule gegangen, die uns beiden besser erspart geblieben wäre. So war ich gezwungen, unter einer Kruste aus Misstrauen und Angst, den Hund herauszuarbeiten, der sie ursprünglich war. Liebenswert und mental belastbar. Dank Internet und illegalem Welpenhandel ­werden leider auch künftig Hundeseelen ­malträtiert werden, und das in einem Land, in dem Tierschutz eine ­wichtige Rolle spielen könnte, wenn der ­schnöde Mammon nicht wäre.

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