Aggression bei Hunden – aus Sicht der Herdenschutz­hunde-Expertin

Von Sabine Lagies

Keine andere Verhaltensweise unserer Hunde macht uns ­Menschen so viel Angst oder erzeugt so viel Unsicherheit wie Aggression.
Futteraggression, Leinenaggression, Aggression gegen Rüden oder gegen Hündinnen, gegen große oder kleine Hunde oder gegen alle, Radfahrer, Jogger, Autos – es gibt kaum etwas in unserem engen zivilisierten Umfeld, gegen das keine Aggression ­beschrieben wird.

Gemäß den lateinischen Wurzeln des Begriffes ist Aggression schlicht im positiven Sinne lebenserhaltend. Im Ursprung bedeutet „aggredi" nur herangehen, sich nähern, auf jemanden zugehen und im aktiveren Sinne etwas ein- bzw. herausfordern. Aggression ist damit immer auch ein Ausdruck der Fähigkeit zur Selbstbehauptung und damit – beim Menschen, aber auch bei ­Hunden – eine wesentliche Voraussetzung für ein intaktes Selbstwertgefühl und eine souveräne, in sich ruhende Persönlichkeit.

So beschreibt Joachim Bauer, der deutsche Molekularbiologe, Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut, Aggression als ein in Säugetieren ­(einschließlich Menschen) verankertes, biologisch fundiertes Verhaltensprogramm zur Bewältigung potenziell gefährlicher Situationen, was lebenserhaltend und – fördernd ist.

Anpassung an Situationen
Der amerikanische Physiologe Walter Cannon prägte 1915 den Begriff Fight-or-flight (dt., Kampf oder Flucht). Der Begriff ist auch im deutschen Sprachraum unter der englischen Version in Fachkreisen geläufig. Die Fight-or-flight-Reaktion beschreibt die Stressreaktion der raschen körperlichen und ­seelischen Anpassung von Lebewesen in Ge­fahrensituationen.

Während der Fight-or-flight-Reaktion veranlasst das Gehirn die schlagartige Freisetzung von Adrenalin, welches Herzschlag, Körperkraft (Muskel­tonus) und Atmungsfrequenz erhöht. Diese bereitgestellte Kraftreserve liefert die Energie für überlebens­sicherndes Verhalten, das der Stresssituation angemessen ist: Kampf oder Flucht. Das Gehirn wird bis auf ­wenige unabdingbar nötige Areale quasi abgeschaltet, die Wahrnehmung ist auf den Konflikt zentriert, alles andere wird ausgeblendet.

Bei einer Dauerbelastung werden zusätzlich stoffwechselanregende Hormone wie Cortisol von der Nebennierenrinde gebildet, da das Adrenalin zwar sofort, aber nur kurz wirksam ist.

Aggression ist immer eine Reakion – KEINE Aktion
An dieser Stelle ist klar: Zur Aus­lösung der Aggression bedarf es ­spezifischer Situationen und Reize. Und: ­Aggression ist eine gesunde Reaktion auf eine ungesunde – weil potenziell schädigende – Situation. Ob das nun ein angreifender fremder Hund ist, Schmerz an der Kehle durch Leinenruck, ein bedrohlicher Mensch oder jemand, der einem eine lebensnotwendige Ressource wie Futter oder Fortpflanzungspartner wegnehmen will, ist für die ablaufende Reak­tion nicht von Belang.

Verselbständigte aggressive ­Reaktionen
Wie aber entsteht nun die sich verselbständigende, immer wieder automatisiert ablaufende aggressive Reaktion, wie z.B. Leinenaggression?Hier ist ein Ausflug in die Lern­psychologie nötig.

Die meisten Hundetrainingsmethoden basieren auf der behavioristischen Lerntheorie, die besagt, dass auf einen Reiz immer eine Reaktion folgt und diese Reiz-Reaktions-Muster auch von außen aktiv gesteuert werden können. Gearbeitet wird ­entweder mit Belohnung oder Strafe, das heißt, der Hund bekommt ein Kommando (= Reiz), zeigt eine Reaktion, und je nachdem, ob diese Reaktion erwünscht oder unerwünscht ist, folgen Lob oder Strafe (= Reaktion), um das Verhalten abrufbar und damit steuerbar zu machen.

Bei Leinenaggression ist in der Anamnese, der Vorgeschichte, immer eines zu finden: Der Hund hat einmal – aus welch Gründen auch immer – auf z.B. einen entgegenkommenden Hund aggressiv reagiert. Dieses Verhalten – und evtl. auch die überschießende Reaktion von anwesenden Passanten – hat seinen Besitzer so verunsichert, dass er beim nächsten Mal vorsichtshalber die Leine, die bisher immer lose war, kurz genommen hat, sein Puls ist in Erwartung des Konflikts gestiegen, die Hände sind feucht geworden. Hier lief also beim Menschen die oben beschriebene Fight- or Flight-Reaktion ab. Der Hund, als Meister des Lesens von Körpersprache, hat diese Angstreaktion seines Besitzers wahrgenommen. Und da Hund und Besitzer eine soziale Gemeinschaft bilden, haben sich die Gefühle auf ihn übertragen und er hat ebenfalls mit fight- or flight reagiert – und den entgegenkommenden Hund als Auslöser bestimmt. Ruckt der Be­sitzer nun auch noch an der Leine, wird die Reaktion durch den Schmerz an der Kehle verstärkt, die ­Verknüpfung „entgegenkommender Hund = beängstigend und schmerzt" entsteht und wird bei jeder Begegnung weiter gefestigt. Der Mechanismus dahinter ist die oben beschriebene operante Konditionierung. Das Gefühl dahinter ist Angst, ausgelöst durch die potenzielle Bedrohung durch den entgegenkommenden Hund.

Und damit sind wir bei einem Grundgefühl hinter jeglicher Aggression: Angst. Ob es die Angst ist, verletzt zu werden, die Angst vor einem Konflikt, vor Strafe oder vor Verlust einer Ressource ist dabei belanglos. Weit wichtiger und Dreh- und Angelpunkt ist:

In Unkenntnis des zugrunde liegenden Gefühls wird Aggression vielfach falsch behandelt oder es wird nur gegenkonditioniert, also am Symptom gearbeitet, anstatt die Ursache zu beheben. Ob man dazu mit Leckerchen, also Belohnung, oder Schlägen an den Kopf, also Strafe, arbeitet, ist unerheblich. Der angewandte Mechanismus ist auch hier wieder in allen Fällen die operante Konditionierung.

Das Problem an dieser Art des ­Lernens ist, sie funktioniert unter Laborbedingungen (oder auf dem Hundeplatz) hervorragend, in Falle eines Falles jedoch nur sehr bedingt, da die Fight- or Flight-Reaktion ein automatisch ablaufender Schutz­mechanismus des Körpers ist und nicht dem Bewusstsein unterliegt – weder bei Menschen, noch beim Hund. Man kann eine angstauslösende Reaktion sehr wohl zeitweise unterdrücken, indem man einen Reiz einsetzt, der noch mehr Angst macht – die klassische Schutzhundausbildung fußt darauf –, aber im Endergebnis erzieht man sich damit tickende Zeitbomben, weil die Tiere unter permanentem, nicht mehr auflösbarem Stress stehen – mit allen bekannten Folgen bis hin zur nicht mehr steuerbaren und auch nicht mehr real er­klärbaren aggressiven (Über-)Reaktion.

Aber was dann tun?
Die Ursache beheben. Und stress­mindernde Faktoren stärken. Angst haben Mensch wie Hund vor Unbekanntem (Wachhunde melden deswegen z.B., oder greifen sogar an), vor Bedrohlichem, vor Verlust von etwas Wichtigem. Stressmindernd wirken stabile soziale Beziehungen, eine Leitfigur, der man vertraut, positiver Körperkontakt und körperliche Bewegung (Fight or Flight sind beide immer mit intensiver körperlicher Bewegung verbunden, was die Stresshormone wieder abbaut).

Stabile soziale Beziehungen ent­stehen, wenn man sich selbst als selbstbestimmt, sozial kompetent und nützliches Mitglied der Gruppe erlebt. Die Theorie dahinter ist die ­Theorie des sozialen Lernens, die beim Menschen mittlerweile die behavioristischen Theorien des starren Reiz-Reaktions-Lernens abgelöst hat.

Die Theorie des sozialen Lernens begreift Lernen als ständige Inter­aktion mit den jeweiligen umgebenden Gruppenmitgliedern. Dadurch werden die eigenen Verhaltensweisen permanent angepasst und modifiziert, was wiederum das eigene Überleben, aber auch das der Art sichert, weil eine konsolidierte Gruppe entsteht, in der zum Austragen von Konflikten ritualisierte Verhaltensweisen genügen. Diese Art des Lernens ist – wie die Neurobiologie und Ethologie inzwischen erwiesen haben – allen hoch sozialen, in Gruppen lebenden Säugetieren, zu denen Mensch wie Hund gehören, zu eigen, da sie schlicht Energien spart und Können bündelt, die zum Überleben bzw. zum Wohl der Gruppe eingesetzt werden können, anstatt sinnlos in hoch energetischen Konflikten zu verpuffen.

Was bedeutet das für den Hund?
Soll der Hund ein stabiler, belast­barer Zeitgenosse werden und es auch bleiben, muss er zwingend in seinen sensiblen Phasen in einer solchen Gruppe groß werden und später auch in einer solchen leben. Der Mensch alleine kann einem Hund nicht alles geben, was dieser braucht. Versäumnisse in der Welpenzeit können nicht mehr zu 100% nachgeholt werden, spätere Versäumnisse schon. Dies ist von Bedeutung bei der Therapie von verhaltensauffälligen Hunden.

Ein Hund in der heutigen Zeit lebt jedoch meist ohne Hundegesellschaft und ohne stabile Leitfigur, weil Autorität in unserer Gesellschaft einen negativen Beigeschmack hat und nach Möglichkeit vermieden wird. Dabei wird grundsätzlich missverstanden, dass alle sozialen Lebewesen sich ­gerne und freiwillig einer guten Autorität anschließen, die ihnen Sicherheit gibt, für das Wohl der Gruppe sorgt und Stress reduziert. Im Gegenzug gestehen sie der Leitfigur gerne ein paar Privilegien zu wie freie Platz- oder Futterwahl, die diese je nach Laune annehmen kann oder auch nicht. Ihre Autorität leidet dadurch nicht. Dafür lebt die Leitfigur unter höherem Stress, der sie schädigt und zu einer geringeren Lebenserwartung führt, weshalb diese Position ent­gegen der vielfach noch kursierenden Meinung nicht sehr begehrt ist. Der Preis für die paar Privilegien ist ­einfach zu hoch.

Verhält sich nun der Mensch dauernd falsch, sorgt er für Stress, anstatt ihn zu mindern, schwächt er die Be­ziehung zum Hund durch unverständliche Verhaltensweisen (wie z.B. die sog. Alpharegeln à la der Mensch isst zuerst, geht zuerst durch die Tür etc.), oder wird der Hund dauer­überfordert, weil der Mensch ihn als gleichberechtigtes Mitglied des Haushaltes versteht, so passiert das, was auch bei so aufwachsenden ­Kindern ­passiert: Der Dauerstress und die damit verbundenen Stresshormone machen krank: Entweder körperlich (Allergien z.B.) oder seelisch (Verhaltensauf­fälligkeiten wie geringe Stresstoleranz aufgrund von Dauerüberforderung, Aggressionen, Hyperaktivität etc.).

Und damit ist der Boden bereitet für aus dem Ruder laufende Aggression. Klar ist aber auch, dass – will man Ursachenbehebung betreiben anstatt am Symptom herumzudoktern – die Führungskompetenz des Menschen unter die Lupe genommen werden muss und ggf. hier angesetzt werden muss. Das Schöne daran ist aber auch: Gelingt es dem Menschen, sein ­Verhalten so zu ändern, dass der Hund ihn als Leitfigur annimmt, also seine Führungskompetenz freiwillig anerkennt, so ändert der Hund sein Verhalten – und das sofort. Und ohne Leckerli oder Schläge mit Disc oder Leine. Ich kann das aus vielen Jahren Arbeit mit verhaltensauffälligen Herdenschutzhunden, die sich sowohl von der Körpergröße wie auch vom Charakter her nicht mit Körperkraft und Angst/Zwang führen lassen, bestätigen: Das Problemverhalten verschwindet sofort, wenn der Hund in einem stabilen Sozialverband mit Führungskompetenz an der Spitze lebt. Denn durch die Verhaltensänderung des Menschen beginnt gemäß der Theorie des Sozialen Lernens sofort eine Modifizierung des Verhaltens des Hundes. Immer. Und da diese Änderung vom Hund selbst vorgenommen wird, weil sie ihm passender für die neuen Gegebenheiten scheint, ist sie auch dauerhaft und sicher verankert – im Gegensatz etwa zur ­Operanten Konditionierung, die bei starken ­anderen Reizen nicht mehr greift.

Aus Menschen- wie aus Tierschutzgründen favorisiere ich daher ein Menschentraining anstatt ein Training des Hundes. Der Mensch ist das Problem – fast immer. Nicht der Hund!

HINTERGRUND

Was zeichnet eine – aus Sicht des Hundes – kompetente Leitfigur aus?

■ Sie ist eine ruhige, souveräne ­Persönlichkeit.

■ Sie kann jederzeit auf Privilegien bestehen – Futter, Liegeplatz etc. … – ohne dass es zu einem aggressiven Konflikt kommt.

■ Sie kann auf diese Privilegien aber auch verzichten, ohne dass ihr Status leidet.

■ Sie kann jederzeit rangniedrigere Gruppenmitglieder zu Richtungswechseln, Tempoänderungen oder Stopps veranlassen.

■ Andere Gruppenmitglieder ­schließen sich ihr freiwillig an und orientieren sich freiwillig an ihr,

■ halten von sich aus Kontakt – beim Freilauf z.B. – und passen von sich aus auf, dass sie den Anschluss nicht verlieren.

■ Sie gibt Richtungswechsel nicht per Kommando vor, sondern geht einfach – die Gruppenmitglieder folgen. Es ist deren Aufgabe, den Anschluss nicht zu verlieren.

■ Sie spielt mit rangniedrigeren Gruppenmitgliedern und lässt Körperkontakt zu, kann beides aber jederzeit auch abbrechen.

■ Sie kann jederzeit Konflikte in der Gruppe allein durch ihre Präsenz unterbinden.

■ In ihrer Gruppe werden Konflikte ritualisiert ausgetragen, nicht eskaliert via körperliche ­Aggression mit ernsthafter Verletzungsintention.

■ Sie verzichtet auf (Dauer-) ­Kontrolle

■ Sie trifft Entscheidungen zum Wohl der Gruppe.

■ Ihr Verhalten ist berechenbar/vorhersagbar.

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