Abschied nehmen

Von Christine Metzger

Abschiednehmen von seinem Hund ist so individuell wie Hund und Mensch, die es betrifft.
Das Thema nicht als Tabu be­handeln, sondern rechtzeitig darüber nachzudenken, um etwas ­besser vorbereitet zu sein. Christine Metzger lässt WUFF-Leser in ihr Herz blicken …

Ich weiß, dass er sterben wird in dieser Nacht. Obwohl der Tierarzt noch etwas anbietet aus der ­Zauberkiste der Medizin. Morgen, sagt er, werde er … „Gut“, sage ich. Ein Strohhalm, der tanzt auf den Wogen des reißenden Flusses, und ich, die Ertrinkende, greife danach. Ich solle den Hund dalassen, dann könne er gleich am nächsten Morgen …

„Nein“, sage ich. „Ich lasse ihn nicht allein.“ Rasende Fahrt in die Innenstadt, Bahnhofsviertel, wo die einzige Apotheke ist, die das ­homöopathische Mittel führt, das mir empfohlen ­wurde. Parken in zweiter Reihe, ­Warten in der Schlange – ­warum ­dauert das so lang? Schneller, ­schneller, Benjamin wartet im Auto!

Dank für 13 Jahre
Endlich sind wir zu Hause. Es ist ­Oktober und wird schon früh dunkel. Benjamin springt auf die Couch, ich setze mich zu ihm. Er drückt sich an mich, ich streichle den abgemagerten kleinen Körper und rede. Ich danke ihm für alles, was er mir gegeben hat in diesen mehr als 13 Jahren. Ich erzähle ihm vom Hundehimmel und wie schön er es dort haben wird. Ich sage ihm, wie sehr ich ihn liebe und dass ich ihn immer lieben und nie vergessen werde. Ich versuche stark zu sein, die Tränen zurückzuhalten, sie laufen mir über die Wangen.

Benjamin springt von der Couch und schüttelt sich, wie er es immer getan hat, wenn ich ihm emotional zu nah kam. Mittags hatte er gefressen, ­gierig, fast 200 g Tartar. Und er hatte das Essen behalten. Als ich ihm jetzt etwas anbiete, dreht er den Kopf zur Seite. Er legt sich auf den Teppich, ich decke ihn zu, er atmet ruhig.

Dann gehe ich in die Küche und gestalte den Abend genauso wie alle Abende, die wir in den letzten ­Jahren gemeinsam verbracht haben. Ich erhitze Hühnersuppe, die ich eigentlich für ihn gekocht hatte, und kann nichts davon essen. Ich höre Radio, lege eine Mozart-CD ein, ich tele­foniere. Benjamin liegt gleich nebenan, er kann mich hören, er kann mich riechen. Immer wieder schaue ich ins Wohnzimmer, spreche beruhigende Worte, kraule sein Lockenköpfchen, das aus der rotgrünen Häkeldecke herausragt. Dann geh’ ich wieder. Ich tue das bewusst. In der Überzeugung, dass es ist wie bei uns Menschen: Ein Wesen kann nicht sterben, wenn wir, die Lebenden, die Liebenden, unsere Energie verströmen. Unser Wunsch, wenn auch unausgesprochen, „Bleib bei mir, ich brauche dich, was soll ­werden aus mir ohne dich?“ ist zu stark.

Der Kreis schließt sich
Ich will ihn nicht hindern seinen Weg zu gehen. Wir haben Abschied genommen, ich bin da, er soll seinen Zeitpunkt finden. Kurz vor Mitternacht springe ich auf. Erst denke ich, das Bellen kommt von der Straße, so hoch, so kurz, wie von fern. Aber er ist es, Benjamin bellt, er ruft mich! Mit einem Satz bin ich im Wohnzimmer. Er hat sich aufgerichtet, er sieht mich an. Ich falle auf die Knie und für einen Moment ergreift mich Panik. Was tun, wenn es ein langer Todeskampf wird, wenn er leidet? Dann breite ich die Arme aus, er taumelt auf mich zu und bricht zusammen, den Kopf in meinem Arm.

Jetzt könnte ich weinen, aber ich tu es nicht. Ich bin ganz ruhig. Es war ein schöner Tod. Ich war dabei, als dieser Hund aus dem Bauch seiner Mutter rutschte, ich habe ihn gehalten, als er starb. Der Kreis ist geschlossen. Ich schließe ihm die Augen, sanft bette ich den kleinen Körper auf den Boden, streichle ihn, decke ihn zu. Der ­reglose Körper irritiert mich nicht am ­nächsten Morgen. Ich spreche mit Benjamin, erkläre ihm, was ich tue und warum. Seinen Berg Stofftiere in einen Müllsack packen und wegwerfen. Den Haken abschrauben, an dem die Leine hing. Die Schüsseln wegstellen, all seine Betten entfernen. Dann, genau 12 Stunden nach seinem Tod, habe ich plötzlich das Gefühl, dass es nur noch ein Körper ist und er weg muss. Und so bin ich sehr froh, als der Tierarzt in seiner Mittagspause kommt und ihn mitnimmt. „Verbrennen“, sage ich. „Nein, ich will keine Asche.“ Und: „Nicht gleich, aber in ein paar ­Monaten, wenn mal ein armer Hund in die Praxis kommt, der ein gutes ­Plätzchen sucht, dann …“

Trauerzeit
Ich will warten, ich will eine Trauerzeit. Ich wasche die Hundebetten und verstaue sie auf dem Schrank. Ich werfe die kleinen Zettel weg, auf denen ich Listen geführt hatte: Jedes ­Löffelchen, das er zu sich genommen hatte, ein Strich. Dass ich einmal wütend die Schüssel auf den Boden geknallt und viel zu laut gesagt habe: „Verdammt, du musst was essen, Benjamin, so geht es nicht“ tut mir jetzt unendlich leid. Es sollte nur einer der vielen Vorwürfe sein, die mich in den nächsten Wochen quälen werden. Hätte ich, wäre ich, warum habe ich nicht …

Schuldgefühle gehören dazu. So ein Hundeleben ist uns ganz in die Hand gegeben, wir müssen die ­Zeichen erkennen, wenn das Tier krank ist, wir müssen die Entscheidungen treffen. Wählt man die Euthanasie, wird unweigerlich der Gedanke kommen, ob es zu früh war. Oder zu spät. ­Weinen gehört dazu. ­Stille ­Verzweiflung, lautes ­Anschreien gegen die Ungerechtigkeit, die Gemeinheit dieser Welt. Ich weiß das, ich habe Hunde, seit ich denken kann. Mit Benjamin sind es schon fünf, die mich im Hundehimmel erwarten. Ich habe um jeden getrauert, aber mit dem Verlust von Benjamin werde ich nicht fertig.

Ich kann nicht essen ohne den Druck seines Kinns auf meinem Knie. Ich gehe nicht mehr vor die Tür. Die Wohnung ist leer und trist wie eine Aussegnungshalle. Ich habe Freunde, die mir zuhören. Wieder und wieder darf ich die Geschichte erzählen, wie er starb. Ich stelle Fotos auf, ich zünde Kerzen an. Ich verschicke Abschiedsbriefe an alle Menschen, die Benjamin kannten. Es hilft nichts. Ich weine mich in den Schlaf, ich fahre nachts schreiend hoch, wenn meine Hand automatisch nach unten fährt, um in seinem Fell zu rasten, und ins Leere greift.

Und dann, es ist noch keine Woche vergangen seit Benjamins Tod, er­wache ich eines Morgens und weiß: Meine Hunde im Hundehimmel haben einen Hund für mich ausgewählt – ich muss ihn nur finden. Damals war das Internet noch nicht selbstverständ­licher Teil meines Alltags, also stürme ich zum Telefon. Tierärzte, Tierheime. Freunde, Bekannte, Bekannte von Bekannten – ich telefoniere stundenlang. Ich suche eine Hündin, mittelgroß, ich finde sie nicht.

Endlich, am Abend, erreiche ich eine Tierschützerin. Ja, sagt sie, vor zwei Tagen sei eine kleine Hündin aus ­Mallorca angekommen. Siebeneinhalb Monate alt, Mischung aus Dackel und Boxer. Aber die sei eigentlich schon vergeben. Nein, denke ich, das ist ­meine. Das ist sie, die haben meine Hunde im Himmel für mich ausgewählt. Ich rede und rede, ich gebe Referenzen an, und nach einer Stunde ist die arme Frau so weit, dass sie sagt, sie werde mal schauen und sich am nächsten Tag melden.

Die Freunde warnen: Du willst einen Hund nehmen, den du nicht mal ge­sehen hast? Der schon in zwei Familien war? Wenn das ein Problemhund ist, du, in deinem Zustand …  Am nächsten Morgen kommt der erlösende Anruf: Ich kann den Hund holen. Einen Namen hab ich schon, Ronja soll sie heißen, aber als ich im Auto sitze, fällt mir ein, dass die Hündin ja schon zwei Besitzer und folglich auch einen Namen hat, dem ich mich zumindest lautmalerisch nähern muss.

Ronja – Rodja: Zufall?
Und dann läute ich, die Dame öffnet eine Tür und ein rotblondes, kurz­beiniges Wesen stürmt auf mich zu. „Das ist sie“, sagt sie. „Das ist die ­kleine Rodja.“ Ich starre die Frau an. „Wie heißt sie?“ „Rodja, das heißt die Rote.“ Wer glaubt, dass das ein Zufall war, soll es glauben. Wer meint, mein Rat wäre: Wenn dein Hund ­gestorben ist, nimm dir sofort einen neuen, irrt. Es gibt keinen Rat, wie man mit der Trauer umgeht, außer dem: Zu tun, was man selbst und in diesem Moment für sich als richtig erkennt. Ronja hat mir geholfen, sie hat wieder Struktur und Freude in mein Leben gebracht, und inzwischen ist sie meine beste Freundin, so wie Benjamin mein bester Freund war. Die Trauer um ihn war mit Ronjas Ankunft längst nicht beendet, und in den ersten Monaten muss die Kleine gedacht haben, dass in dem kalten, dunklen Land, in dem sie da gelandet war, seltsame Bräuche herrschen und kein Tag vergeht, an dem die Menschen nicht heulen.

Jetzt ist Ronja zehn Jahre alt. Ihre Schnauze ist schon ganz grau und ich darf gar nicht daran denken, dass ich eines Tages auch von ihr Abschied nehmen muss. Was ich dann tun ­werde? Trauerzeit? Nie mehr wieder einen Hund, weil ich nicht noch einen Verlust verkraften kann? Ich weiß es nicht. Ich werde es wissen, wenn es so weit ist, aber das dauert hoffentlich noch viele Jahre.

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