Abbruchsignale – Teufelswerk oder notwendige Kommunikation?

Von Helga Drogies

Während die einen überzeugt sind, dass Abbruchsignale das ­Vertrauen des Hundes in seinen Halter erschüttern, zeigen andere, dass sie eine normale Form der Kommunikation zwischen Hunden darstellen. Bedenkt man dieses Thema, wird man wohl auch auf den Charakter des Hundes eingehen müssen – Pauschallösungen gibt es keine, wie Günther Bloch sagt. Zudem geht es immer auch um die Art des Abbruchsignals. Das würde auch die Diskussion ­zwischen Gegnern und Befürwortern versachlichen. Günther Bloch und Sophie Strodtbeck sind WUFF-Lesern gut bekannt. Für WUFF hat Helga Drogies beide zum Thema interviewt.

H. Drogies: Das Thema „modernes" Konfliktmanagement in Kanidengruppen bzw. in der Mensch-Hund-Beziehung ist zurzeit in aller Munde. In diesem Zusammenhang ist neuerdings sogar von positiven Abbruchsignalen die Rede. Was ist das?

G. Bloch: Hundeartige betreiben weder „altbackenes" noch „modernes" Konfliktmanagement. Letzteres ist genau so eine Erfindung des Menschen wie der merkwürdige Begriff positive Abbruchsignale. „Cut-Off-Signals", wie man sie in englischen Verhaltensethogrammen zusammenfasst, haben eine wichtige Funktion. Sie dienen dem sozialen Lernen, der Einschätzbarkeit und Berechenbarkeit. Vereinfacht ausgedrückt sorgen sie dafür, dass jedes Gruppenmitglied weiß: „Es reicht, hör auf mit dem, was du gerade tust". Wichtig ist jedoch zwischen nicht körperlichen Droh­signalen wie etwa strengem Blick mit Stirnrunzeln, Lefzen-Anheben, Maul-Aufreißen und Zähne-Zeigen, Körper-Anheben bzw. Leer- oder Abwehrschnappen einerseits und körperlich betonten Abbruchsignalen wie Bewegungseinengung durch Querstellen und Kopf-Auflegen, Bedrängen und Anspringen, Zwicken, Stoßen, Schnauzengriff und Auf-den-Boden-drücken andererseits genau zu unterscheiden.
Nach Durchsicht der themenrelevanten Literatur kommen eigentlich alle methodisch angelegten Verhaltensstudien übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass ein fein abgestimmtes Konfliktmanagement überlebens­notwendig ist für alle in sozialen Gruppen lebende Hundeartige. Dennoch streitet man sich in der Hunde­szene wie die Kesselflicker, ob der Einsatz von Abbruchsignalen Vertrauen und Bindung zerstört oder nicht.

ABBRUCH- UND VERSÖHNUNGS­SIGNALE

S. Strodtbeck: Gerade innerhalb einer sozialen Gruppe, die auf Kooperation angewiesen ist, ist es enorm wichtig, dass unnötige und derzeit ungewollte Eskalationen vermieden werden! Denn der Zusammenhalt der Gruppe ist für das gemeinsame Agieren unabdingbar. Je geringer das Risiko an Zeit- und Energieverbrauch, die Verletzungs­gefahr und die Gefahr des Abwanderns „beleidigter" Gruppenmitglieder ist, desto besser funktioniert die Zusammenarbeit. Was anderes ist es natürlich, wenn man die Gruppe verkleinern und Gruppenmitglieder rausschmeißen möchte …
Daher sind auch Abbruch- UND Versöhnungssignale bei ­gruppenlebenden Kaniden gleichermaßen wichtig und kommen in der Regel auch eng verknüpft miteinander vor. Denn eines muss der Mensch sich merken: Nachtragend sein, und jemand wegen einer – noch dazu bereits ­korrigierten – „Straftat" stundenlang oder noch ­länger zu ignorieren, ist genauso wenig kanidentypisch wie sich auf der Nase rumtanzen zu lassen oder alle anderen autoritär niederzumachen.

KEINE PAUSCHALWEISHEITEN

G. Bloch: An irgendwelchen kaufmännisch geschickt vermarkteten „Pauschal-Weisheiten" möchte ich mich nicht beteiligen. Hundehalter haben Besseres verdient. Nicht nur unsere kontinuierlich durchgeführten Verhaltensbeobachtungen an Wölfen belegen unmissverständlich, dass sozio-emotionaler Vertrauensaufbau durch die Vermittlung von Schutz und Geborgenheit, das intensive Einüben und Etablieren von ritualisierten Kontrollmechanismen einschließlich Grenzen-Setzen und Versöhnungsgesten untrennbar miteinander verzahnt sind.
Kaniden sind zweifellos Kooperations­tiere. Doch bei allem Willen zur Zusammenarbeit gibt es stets eine Diskrepanz zwischen Kooperation und der Durchsetzung von Eigen­interessen, Freundschaft/Partnerschaft und statusbezogenem Handeln bzw. zwischen Toleranz und Konkurrenz. In allen sozialen Gruppen herrscht nun einmal Wettbewerb. Zur Vermeidung offensiv-kämpferischer Auseinandersetzungen um Sozialstatus und Ressourcen ist u.a. ein Kommunikationsaustausch von Abbruchsignalen alternativlos. Die Diplombiologin Sandra Fischer konnte eindrucksvoll nachweisen, dass Abbruchsignale auch in verwilderten Haushundegruppen keinen schlechten Einfluss auf die Vertrauensbeziehung von unter-einander konkurrierenden Gruppenmitgliedern haben, obwohl dies ja des Öfteren behauptet wird.

S. Strodtbeck: Die meisten Untersuchungen zu diesem Thema haben ergeben, dass Abbruchsignale zunächst in steigender Intensität gesendet werden und dass keinesfalls mit dem stärksten möglichen ­Signal begonnen wird. Hundehalter, die bereits bei jeder kleinen Auffälligkeit ihres Hundes „Schnauzgriff" einsetzen, haben dieses System leider nicht verstanden.
In mehreren statistisch ausgewerteten Untersuchungen an Haushunden, afrikanischen Wildhunden und Wölfen kam der allseits so beliebte „Schnauzgriff" als Abbruchsignal so selten vor, dass er bei der statistischen Berechnung regelrecht durchs Raster fiel.

H. Drogies: Verfolgt man die leider nicht selten unsachlich und polemisch geführten Debatten, hat man den Eindruck, als ewig Gestriger zu gelten, sobald man einen bisweilen zu selbstständig agierenden Hund zurechtweist. Mitunter wird einem sogar tierschutzrelevantes Chefgehabe vorgeworfen, weil ständiges Grenzen-Setzen den Hund stressen, total verunsichern und verängstigen würde.

G. Bloch: Mich verwundern solcherart einseitige Weltanschauungsdiskussio­nen ein ums andere Mal. Wo, bitteschön, sind denn die Daten, die eine solche Verallgemeinerungshypothese stützen? Und überhaupt: „Ständiges Grenzen-Setzen ohne Rücksicht auf Verluste" – welcher Hundehalter macht denn so was?

VON KANIDEN LERNEN

Kaniden lehren uns eine differen­ziertere Sicht der Dinge:
1. Wer es ständig nötig hat – womöglich in aggressiver Grundstimmung – ein familientaugliches Regelwerk zu vermitteln, um Anerkennung zu erlangen oder Ressourcen abzugrenzen, hat seinen Stand als Leittier längst verloren.

2. Wer Abbruchsignale ausnahmslos mit irgendwelchen Chef-Allüren in Verbindung bringt, hat das ganze System nicht verstanden. Nicht nur Ranghohe bedienen sich des „Werkzeugs" Abbruchsignale. Das tun auch Niederrangige. Ein jedes Gruppenmitglied hat – wie es einst der Zoologe Erik Zimen wunderbar auf den Punkt brachte – das Recht zum Protest.

3. Wer Hundeartige beobachtet, sieht, dass Grenzen-Setzen grundsätzlich sehr viel mit Angemessenheit, mit Verhältnismäßigkeit und Timing zu tun hat. In Bezug auf die Mensch-Hund-Beziehung sollten wir unser Augenmerk auf die wesentliche Fragestellung richten: Wie kann und muss ich bestimmte Verhaltenstendenzen meines Hundes als verantwortungsvoller Sozialpartner Mensch so einschränken, damit dieser in der Öffentlichkeit als gesellschaftsverträglich eingestuft wird. Wenn Hunde Fremde anspringen, Jogger oder Radfahrer scheuchen, Kinder mit einem Schokoladen-Eis in der Hand massiv belästigen oder ungehemmt Nachbars Katze hinterherstellen, so ist das schlichtweg inakzeptabel. Hunde­halter haben Pflichten. Wer keinerlei Grenzen setzt und Abbruchsignale verpönt, nur um im falsch verstandenen Sinne bloß nicht als „altbackener Gruppenleiter" zu gelten, demonstriert besten­falls sozioemotionale Instabilität.

DIFFERENZIERTE BETRACHTUNG

H. Drogies: Jetzt aber mal konkret: Wie soll man denn nun seinen Hund zurechtweisen?

G. Bloch: Jetzt warten natürlich alle gespannt auf den ultimativen Geheimtipp. Den kann und will ich nicht geben. Vielmehr eine Gegenfrage: Um welchen Hundetyp geht es, in welchem Alter und in welcher Lebenssituation? Gut oder schlecht sozialisiert? Dreiste, ­extrovertierte „Schnösel" werden in Kaniden­gesellschaften seitens ihrer Eltern und erwachsenen Helfershelfer situativ anders behandelt als gesellige, introvertierte oder extrem unterwürfige Jungtiere. Wer sich beispielsweise nur unwillig an die kulturell vorgegebenen, auf Fairness ausgerichteten Familien­regeln hält, muss „fühlen". Echte Leittiere handeln zielorientiert. Das Wohl der gesamten Gruppe steht im Vordergrund. Sozial-freundliche ­Gesten überwiegen bei Weitem. Trotzdem wird, wenn notwendig, ganz bewusst fixiert, gedroht, Bewegungsfreiraum begrenzt, gerempelt und geschubst. Alles zu seiner Zeit.
Nach meiner Auffassung unterscheidet man in der aktuellen Diskussion viel zu wenig zwischen Grenzen-Setzen aus Sorge um seinen Hund (z.B. Verpflichtung des Menschen zur Gefahrenerkennung und Abwehr), notwendigen Maßnahmen zur Beutefangverhaltenskontrolle und der wichtigen und richtigen Vermittlung von Abbruchsignalen im sozialen Kontext.

S. Strodtbeck: Nicht zu vergessen die menschliche Bequemlichkeit. Und die hat in dieser Diskussion keinen Platz. Wer seinen Hund aus Bequemlichkeit ständig „deckelt", soll sich einen Plüschhund kaufen! Aber viel wichtiger erscheint mir eben hier noch mal auf die Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen Beschwichtigung, Versöhnung und Abbruch hinzuweisen. Nur wer alle drei Signaltypen sozialkompetent lesen und anwenden kann ist in der Lage, sinnvolles Konfliktmanagement in und zwischen Gruppen zu betreiben.
Ebenso möchte ich auch noch mal auf das Thema Abbruchsignale von unten nach oben zurückkommen. Genau das ist das Konzept der situativen im Gegensatz zur formalen Dominanz: Dass ein Rangtiefer eben nicht nur das Recht zum Protest hat, sondern dies auch vom Ranghöheren durchaus oft akzeptiert und hingenommen wird – oft sogar mit der Folge, dass er den Rangtiefen in Ruhe lässt. Der Ranghohe kann, muss aber eben nicht seine Interessen jederzeit durchsetzen. Das beobachte ich bei meinen Hunden übrigens auch oft, da darf auch die rangtiefe Beagledame mal eindeutig sagen, dass sie jetzt die Schnauze voll hat.

Im nächsten WUFF Günther Bloch und Sophie Strodtbeck u.a. über verschiedene Einwände gegen Abbruchsignale, die Bedeutung der Frustrations­toleranz bei Hunden, die Verantwortung des Hundehalters in der Welpen- und Junghundeerziehung, die Bedeutung des Ignorierens als sozio­emotionale Isolation und darüber, wie die Experten selbst mit ihren Hunden umgehen.

Das könnte Sie auch interessieren: