Die individuelle Reizschwelle in der Mehrhundehaltung

Von Sabine Lagies

Bei der Mehrhundehaltung ist die Zusammenstellung der Gruppe von allergrößter Bedeutung. Zu den wichtigsten Faktoren dabei gehört die Beachtung der individuellen Reizschwellen der verschiedenen Hunde. Die Autorin verfügt über langjährige Erfahrung in der Gruppenhaltung von Hunden und gibt konkrete Tipps, was man bei der Zusammenstellung beachten sollte und wie man Konflikten vorbeugen kann.

Nimmt man ein Buch zur Mehrhundehaltung zur Hand, so erfährt man viel über Gruppen­zusammenstellungen in Hinblick auf das Geschlecht und den Kastrationsstatus (kastriert oder nicht). Aber auch das Alter wird meist besprochen, ebenso wie die Fütterungsmodalitäten und – natürlich – die Rangordnung. Was dabei jedoch meist nicht erwähnt wird, ist der Faktor der individuellen Reizschwelle. Dabei halte ich diesen Faktor über die Jahre für DEN ausschlaggebenden Faktor beim Management von Hundegruppen. Vor allem, wenn es zu Konflikten kommt, ist es nötig, die Reizschwelle bei der Entscheidung „Eingreifen oder nicht“ zu berücksichtigen. Denn versäumt man da bei Nichtpassung das ­Eingreifen, kann das sehr böse ausgehen. Hunde können im Prinzip schon vieles alleine lösen – aber unterschiedliche Reizschwellen ­stellen für die meisten unüberwindbare ­Hindernisse dar. Was der Begriff Reizschwelle bedeutet, ist im Kasten auf Seite 27 ausgeführt. Ein weiterer für das Management von Hundegruppen in diesem Zusammenhang wichtiger Faktor ist die Stimmungsübertragung.

Die Stimmungsübertragung
Die Stimmungsübertragung unterliegt nicht den individuellen Reizschwellen, sondern funktioniert losgelöst davon. Für sie verantwortlich sind die sog. Spiegelneuronen, eine bestimmte Art von Nervenzellen im Gehirn. Die Arbeit der Spiegelneuronen führt dazu, dass Gefühle eines Anderen selbst auch gefühlt werden können. Alle höheren sozial lebenden Säugetiere verfügen nach aktuellem Kenntnisstand über solche Spiegelneuronen, denn die Fähigkeit, Gefühle anderer quasi in Echtzeit mitfühlen zu können, ist unabdingbar notwendig für eine funktionierende soziale Gemeinschaft von mehreren Mitgliedern. Die gemeinsame Flucht einer ganzer Herde Pferde innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde ist so möglich, aber auch der konzertierte Angriff auf Feinde gründet darin.

Ärger und Angst sind die beiden wichtigsten Emotionen, wenn es um das Überleben geht. Denn entweder muss das Tier flüchten, um aus einer bedrohlichen Situation entkommen zu können, oder es muss angreifen und potenziell schädigende Eindringlinge vertreiben. Aufgrund ihrer immensen Wichtigkeit werden diese beiden Stimmungen extrem schnell übertragen und lösen SOFORT eine Reaktion aus bei allen, die die Stimmung auffangen. Dieser Mechanismus funktioniert losgelöst von der jeweils individuellen Reizschwelle.

Das heißt im Klartext, dass – egal, wer in einer Gruppe dieses Gefühl transportiert – es sofort ALLE anderen ebenfalls „befällt“ und zu einer Reaktion führt. Diese wiederum ist nun aber wieder von der individuellen Reizschwelle abhängig.

Reizschwelle und Stimmungs­übertragung in Kombination
Hat man nun eine gemischte Hunde­gruppe aus niederschwelligen und hochschwelligen Mitgliedern, was die Reizschwelle betrifft, so passiert im Falle eines Konflikts Folgendes:

Bruno, der leichtführige ­Weimaraner ärgert sich über Gwen, die neue Border-Collie-Hündin, die eine seiner ganz persönlichen Grenzen missachtet hat und ihm nicht schnell genug ausgewichen ist. Er knurrt sie an, sie knurrt zurück und Bruno schnappt. Gwen keift zurück, auch sie hat eine niedrige Reizschwelle. Otto, der Kaukase, wird vom Ärger über Gwen angesteckt und blafft sie ebenfalls an. So wie bei Bruno schnappt Gwen nun auch bei Otto zu. Und nun passiert etwas Fatales: Otto, mit seiner hohen Reizschwelle, würde bei all seinem Ärger Gwen niemals beißen. Er würde sie – seinem Gemüt gemäß – festhalten und niederringen, bis sie nachgibt. Und dann wäre die Sache für ihn erledigt. Nun hat Gwen ihn aber in die Nase gebissen – und das ist für ihn, für den Beißen absolute ultima ratio ist, eine klare Ernstkampfansage. Und nun beißt auch er – allerdings nicht mehr im „Schnappmodus“. Die Ernsthaftigkeit seines Tuns überträgt sich wieder via Spiegelneuronen umgehend auf alle Beteiligten, und nun wird es sehr ernst. Nun beißen alle in Beschädigungsabsicht üblicherweise den Neuesten oder Schwächsten der Gruppe, der dadurch keine Chance mehr hat. Greift man nun nicht ein, geht das Ganze womöglich mit dem Tod des Angegriffenen aus. Etwas, das in zu engen, stressreichen Gruppenhaltungen ausländischer Auffanglanger tagtäglich passiert, etwas, das aber auch hiesige Tierheime kennen, weshalb nicht selten auf eine Rund-um-die-Uhr-Gruppenhaltung, welche eigentlich die artgerechteste Haltungs­form wäre, verzichtet wird: Das Risiko scheint zu hoch.

Was in so gemischten Gruppen ebenfalls sehr schnell aus dem Ruder läuft, sind Stresssituationen, Engpässe, Frustsituationen. Aufgrund der niedrigen Reizschwelle neigen die Hunde in solchen Situationen dazu, mal eben zum Nachbarn hinüber zu schnappen – anstatt ihn einfach nur anzurempeln oder ein bisschen herumzubrummeln. Da kann es dann in Fütterungssituationen oder in der Enge an der Tür zum Freilauf, also immer, wenn das Erregungsniveau sowieso schon hoch ist, sehr schnell zu Ernstkämpfen kommen, die dann nur noch schwer zu händeln sind.

Führungsaufgabe
Wenn Sie nicht die Möglichkeit haben, Ihre Hundegruppe von vornherein „reizschwellenkompatibel“ zusammenzustellen, sind Sie als Führungspersönlichkeit hoch gefragt und gefordert. Es liegt an Ihnen, darauf zu achten, dass keine Engpässe auftreten, dass Stress/Frust etc. soweit möglich nicht in der Gruppe abreagiert werden, und Sie müssen eine „worst-case-Strategie“ in petto haben, mit der Sie die Hunde erfolgreich trennen können, wenn es zum Ernstfall kommt.

Ab welcher Gruppengröße ­relevant?
Zweiergruppen sind in aller Regel zu klein für die vorhin beschriebenen Prozesse, auch Dreiergruppen sind noch verhältnismäßig ruhig. Ab vier Hunden sind Sie – vor allem in der Konsolidierungsphase oder bei einem Neuzugang – allerdings gefordert. Eine Vierergruppe mit unterschied­lichen Reizschwellen sollte man nicht mehr sich selbst überlassen, etwa in einem Tierheim. Hier ist die Rund-um-die-Uhr-Präsenz eines Menschen gefordert, der im Falle des Falles eingreifen kann. Und leider kommt erfahrungsgemäß dann doch einmal ein Tag, an dem gerade keiner da ist, und das kann sehr böse enden. Lebt so eine Gruppe dann allerdings bereits sehr lange zusammen, sinkt das ­Risiko gefährlicher Konflikte mehr und mehr; ganz verschwindet es aber nie. Ich schließe daher in einer größeren Gruppe grundsätzlich eine Tür zwischen den Hunden mit unterschiedlicher Reizschwelle, damit auch bei Abwesenheit nichts passieren kann.

Was tun im Konfliktfall?
Das ist die schwierigste Frage von allen, denn sie lässt sich nicht pauschal beantworten: Wer was kann oder eben nicht kann, ist stark abhängig vom jeweiligen Erfahrungsstand, von der Führungskompetenz, der Fähigkeit, ruhig und klar bleiben zu können, auch wenn gerade die Blumentöpfe durch die Gegend fliegen und der Lärmpegel nach Massenschlägerei im Bierzelt klingt.

Das Allerwichtigste daher: Bleiben Sie ruhig, brüllen Sie nicht, schlagen Sie nicht auf die Hunde ein. All das würde den Konflikt nur befeuern. Das ­weitere konkrete Vorgehen ist ausschließlich erfahrenen Personen vorbehalten, weil die eigene Sicherheit und die anderer Menschen an erster Stelle zu stehen hat! Aus rechtlichen Gründen muss daher auch ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass die Anwendung der im Folgenden genannten Tipps absolut auf eigene Gefahr erfolgt und dafür natürlich auch keine Haftung übernommen werden kann!

Als im Umgang mit Hundekonflikten erfahrene Person kann man bspw. Wasser über den übelsten Kontrahenten kippen und den Hund in dem Moment, in dem er loslässt, an den Hinterbeinen packen und ihn in ein anderes Zimmer bringen. Heben Sie die Hinterbeine dabei hoch und passen Sie auf, dass Sie nicht in ­Reichweite der Zähne kommen! Die eigene Sicher­heit steht stets an erster ­Stelle! Und beeilen Sie sich! Denn meist schnappen die Hunde sofort wieder zu.

Wenn mehrere Personen anwesend sind, kann jeder sich einen der übelsten Beißer an den Hinterbeinen ­nehmen und in einem Moment des Loslassens sofort von der Gruppe entfernen und wegsperren. Auch hier gelten die Regeln der Vorsicht in Bezug auf das Gebissenwerden!

Übel, weil lebensgefährlich für das Opfer, sind die Hunde, die in die ­Beine beißen oder in die Innenseiten der Lenden. Wenn die Tiere sich im Nacken des Gegners festhalten, sich auf die Hinterbeine stellen und einen Ringkampf beginnen, passiert meist nichts oder nicht viel. Aber Bisse in die Beine zeigen eine ernsthafte Beschädigungsabsicht an, zudem laufen an den Innenseiten der Lenden Schlagadern, die, wenn verletzt, sehr schnell zum Tod führen. Ziel solcher Aktionen ist immer, den Gegner so zu verletzen, dass er nicht mehr flüchten oder sich verteidigen kann und den Angreifern somit hilflos ausgeliefert ist.

No-go!
Ziehen Sie niemals an Hunden, die sich ineinander verbissen haben: Das gibt böse Verletzungen. Und nochmals sei eindringlich gewarnt: Wenden Sie diese Tipps niemals an, wenn Sie selbst Angst haben, unsicher sind oder Ihnen die Sicherheit gegenüber dem Tier fehlt. Sie könnten übel gebissen werden!

Setzen Sie auf Prävention!
Daher: Das Beste ist immer noch Prävention – also darauf zu achten, dass solche Situationen erst gar nicht entstehen. Prävention erfolgt durch passende Gruppenzusammenstellungen, durch Vermeidung von Stress und Engpässen, durch genügend Ausweichmöglichkeiten und durch möglichst optimale Haltungsbedingungen: Je wohler der Hund sich fühlt, weil alle seine Bedürfnisse (Nahrung, Platz. Gesellschaft, Bewegung) erfüllt sind, umso weniger steht ihm der Sinn nach Konflikten.

Und achten Sie auf eine sehr gute Sozialisierung Ihrer Hunde: Je besser die ist, umso besser können die ­Hunde Konflikte managen, umso ­weniger geraten sie in Stress und umso ­„cooler“ sind sie – unabhängig von der Reizschwelle. Gut zu sehen auf allen Straßen in Südosteuropa.

HINTERGRUND

Was bedeutet Reizschwelle?
Konkret bedeutet die Reizschwelle ein bestimmtes Niveau, ab dem der Hund auf einen Reiz (bspw. einen Schmerz, einen Ruf, davon stürmendes Wild, ein Kommando oder auch nur das Öffnen der Kühlschranktür) eine Reaktion zeigt. Solche Reaktionen sind bspw. Zuschnappen, Knurren, Sabbern oder eben auch das Befolgen des Kommandos.

Hohe und niedrige Reizschwelle
Hunde mit einer hohen Reiz­schwelle brauchen deutlich länger, bis sie eine Reaktion zeigen, als Hunde mit niedriger Reizschwelle. Auch die Reaktion selbst kann abgeschwächter aus­fallen: Kommt der Hund mit einer niedrigen Reizschwelle auf ein Kommando hin quasi „angeflogen“, trottet sein Kollege mit der hohen Reizschwelle eher gemütlich Richtung Besitzer – sofern er das Kommando überhaupt als befolgenswerten Reiz eingestuft hat.

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