Zeitgefühl bei Hunden: Können Hunde Zeit empfinden?

Von Dr. Hans Mosser

Sich an etwas Konkretes erinnern oder sich Zukünftiges vorstellen zu können ist ein wichtiger Parameter für die Empfindung von Zeit und Zeitdauer. Dies wurde bis vor kurzer Zeit noch ausschließlich als eine Fähigkeit des Menschen angesehen. Die Wissenschaft hat diese Ansicht jedoch mittlerweile gehörig zerzaust. Tatsächlich finden sich immer mehr Hinweise, die nahelegen, dass auch Hunde – zumindest grundsätzlich – dazu in der Lage sind, Zeit zu empfinden.

Oft hört man, dass Hunde kein Zeitgefühl hätten. Sie würden nur in der Gegenwart leben, sozusagen im Jetzt »steckenbleiben« bzw. »gefangen sein«, wie dies auch eine Studie des kanadischen Psychologen William Roberts von der University of Western Ontario nachgewiesen haben will (Roberts 2002). Wenn seine These stimmt, dass Hunde kein Gefühl für Vergangenes haben und auch nicht Zukünftiges antizipieren können, dann scheint die Alltagserfahrung der Hundehalter dem zu widersprechen. Wenn Frauchen oder Herrchen die Leine oder das Halsband in die Hand nehmen, um es dem Vierbeiner anzulegen – was ist dann die meist freudig-überschwängliche Reaktion des Hundes darauf anderes als die Erwartung des Zukünftigen, was jetzt passieren wird? Oder was ist das ­anderes als die Antizipation von Zukünftigem, wenn – wie viele Hundehalterinnen berichten – der Hund weiß, dass Frauchen in der nächsten Stunde ohne ihn ausgehen wird, sobald er bemerkt, dass sie sich zu schminken beginnt. Und das sind nur zwei Beispiele von vielen im täglichen Hundealltag, wo angenommen werden kann, dass der Hund weiß bzw. erwartet, was zumindest in naher Zukunft passieren wird. Wie weit in die Zukunft hinein dieses Wissen geht, ist natürlich unbekannt. Vermutlich aber nicht allzuweit. Jedenfalls kann der Hund beim Zusammentreffen bestimmter Faktoren vorhersehen, dass dies oder das demnächst passieren wird. Als bloßes Reflexgeschehen einer biologischen Maschine, wie dies manche meinen, ist das nicht erklärbar.

Bald ist Fütterungszeit!
Nicht wenige Hunde wissen schon eine Stunde oder sogar länger vorher, dass die Fütterungszeit bevorsteht. Ist es wirklich nur der Hunger, der sie dann genau zu diesem Zeitpunkt ihr Frauchen oder Herrchen anstupsen oder mit großen erwartungsvollen Augen anschauen lässt? Manche können dann ausgesprochen lästig werden, um vielleicht den Zeitpunkt der Fütterung jeden Tag ein bisschen mehr nach vorne zu verschieben …
Und soll auch das nur ein erlernter Reflex sein, wenn der Hund beispielsweise immer knapp vor 17 Uhr, bevor sein Mensch von der Arbeit nach Hause kommt, sich aus dem Körbchen erhebt und erwartungsvoll zur Tür geht? So als ob er weiß, dass sein Halter jetzt gleich kommen wird. Jedenfalls gibt es viele Beispiele, dass Hunde ein Gefühl für Zeit haben könnten, jedem Hundehalter wird dazu sicher einiges einfallen.

So einfach ist es nicht
Es ist natürlich einfach, das alles nun auf bloß erlernte Reflexe zurückführen zu wollen. Zu komplex ist das hundliche Erkenntnisvermögen, wie Kognitionsforscher mittlerweile bewiesen haben, und zu einfach machen es sich diejenigen, die menschliche Empfindungen von Zeit, menschliche Vorstellungen von Vergangenem und Zukünftigem auf den Hund übertragen. Dass dies ein Fehlurteil ist, ja, sein muss, beruht schon allein auf dem verschiedenen sensorischen Repertoire, also der unterschiedlichen Sinnesausstattung von Mensch und Hund. Und vielleicht liegt ja genau dort der Schlüssel für das Zeitgefühl unseres Vierbeiners. Nämlich in seinem unvergleichlich empfindlicheren und breiter angelegten Geruchssinn als wichtigste Funktion der Welterschließung.

Ob es die Nase der Hunde sein kann, wie sie Zeit empfinden und Zeiträume erfassen, hat Alexandra Horowitz, Psychologin vom Barnard College in New York, untersucht. Sie ist tatsächlich zu dem Schluss gekommen, dass Hunde anhand der Intensität eines Geruchs die Zeit und den Verlauf von Zeit erfassen können. So wie bei dem schon eingangs erwähnten Beispiel, bei dem der Hund den Zeitpunkt, wann Frauchen oder Herrchen nach Hause kommt, zu wissen scheint (Horowitz 2016). Horowitz erklärt das folgendermaßen. Wenn ein Mitglied der Familie bspw. jeden Tag um 9 Uhr die Wohnung verlässt, dann findet sich zu diesem Zeitpunkt eine bestimmte Konzentration seines Geruchs in der Wohnungsluft, die sich dann während des Tages zunehmend verdünnt. Kommt die Person jeden Tag gegen 17 Uhr wieder nach Hause, könnte der Hund dessen Rückkehrzeitpunkt aus einer bestimmten Restkonzentration des Geruchs antizipieren und sich damit die bevorstehende Rückkehr vorstellen. Das wäre also eine Erklärung dafür, wie Hunde anhand des Geruchs Zeitverläufe erleben.

Auch wenn diese Erklärungshypothese Horowitz‘ noch nicht durch wissenschaftliche Studien erhärtet ist, so scheint sie sehr plausibel und auch spannend. Denn ihre Hypothese würde auch viele andere Situationen erklären, wie Hunde den Verlauf der Zeit anhand von sich verändernden Geruchskonzentrationen erleben. Jedenfalls ist das ein Forschungsbereich, der sicher spannende Erkenntnisse über das Zeitempfinden von Hunden zutage fördern könnte.

Zeit und Erinnerung
Mit dem Empfinden von Zeit hängen – jedenfalls ist das für den Menschen gesichert – auch andere Fähigkeiten zusammen, wie Erinnerung, Gedächtnis oder auch das Gefühl der eigenen Identität. Wie aber verhält es sich bei Hunden mit Erinnerung und Gedächtnis?

Claudia Fugazza von der für ihre Hundeforschung berühmten Budapester Eötvös Loránd Universität hat untersucht, ob Hunde über ein sog. episodisches Gedächtnis verfügen – das ist eine Form der Erinnerung an komplexe Alltagserlebnisse (siehe unten). Die Wissenschaftlerin kommt in ihrer experimentellen Studie zu dem Ergebnis, dass Hunde sich an komplexe vergangene Ereignisse erinnern können, was also das Vorhandensein eines episodischen Gedächtnisses beweist (Fugazza 2016). Das aber hat entscheidende Implikationen darüber, wie wir über unsere Vierbeiner denken müssen. Denn diese Form der Erinnerung hat auch Bedeutung für das Bewusstsein einer eigenen Identität, was durchaus eine gewisse Abstraktionsleistung voraussetzt.

Studien haben zudem nachgewiesen, dass das episodische Gedächtnis auch mit der Fähigkeit zusammenhängt, sich zukünftige Ereignisse vorstellen zu können (Suddendorf 2010). Das heißt, dass die Rekonstruktion vergangener Ereignisse – also das Sich-Erinnern – Voraussetzung dafür ist, einerseits Gegenwart zu erleben und andererseits zukünftige Ereignisse zu antizipieren, sich also Zukünftiges vorstellen zu können. Damit befinden wir uns also mitten drin in unserem Thema des Zeitgefühls bei Hunden.

Einen weiteren interessanten Aspekt der hundlichen Fähigkeit Zeit zu empfinden hat Jessica Cliff, Psychologin von der neuseeländischen Universität Waikoto, untersucht (Cliff 2019). Sie wies nach, dass Hunde die Fähigkeit haben, die Dauer eines Lichtsignals von einer Sekunde und von zehn Sekunden korrekt als kurz oder lang zu identifizieren. Auch wenn einschränkend festzustellen ist, dass der Zeitunterschied in dieser Studie nur 10 Sekunden beträgt, so ist damit dennoch die hundliche Fähigkeit der Unterscheidung zwischen einer kurzen und einer längeren Zeitdauer zumindest grundsätzlich bewiesen.

In diesem Zusammenhang weist Krista McPherson von der Universität Ontario (Kanada) in ihrer Dissertation 2018 nach, dass die Unterscheidung von Zeitlängen bei Hunden in Studien davon abhängig ist, ob die Zeitdauer durch Licht- oder Tonsignale angezeigt wird. Hunde könnten die Länge von durch Tonsignale abgesteckten Zeiträumen besser unterscheiden als durch Lichtsignale (McPherson 2018). McPherson begründet dies damit, dass Hunde besser hören als sehen können. Weitere Forschung in diese Richtung mit der Untersuchung längerer Zeiträume ist sicherlich aufwändig und teuer, wäre aber von großem Interesse.

Innere hundliche Rhythmen
Neben diesen »kognitiven Zeitgebern«, für die bei Hunden die olfaktorische und auch akustische Komponente naturgemäß sehr viel bedeutsamer zu sein scheint als die visuelle wie bei uns Menschen, gibt es aber auch andere Faktoren, die das Zeitgefühl bzw. das Empfinden von Zeit beeinflussen dürften. Dazu gehören die sog. circadianen Rhythmen. Der Begriff »circadian« stammt von Franz Halberg, dem Begründer der sog. Chronobiologie, welche den rhythmischen Verlauf biologischer Prozesse bei Lebewesen untersucht. Halberg lehrte an der Universität von Minnesota (USA) und bezeichnete mit »circadian« einen Rhythmus, der »circa einen Tag« lang dauert (Halberg 1959). Zahlreiche Stoffwechselfunktionen von Säugetieren sind von circadianen Rhythmen bestimmt, wobei es aber nicht nur Tagesrhythmen gibt, wie man bspw. am weiblichen Zyklus erkennen kann.

Verschiedene rhythmische biologische Abläufe sind auch bei Hunden gut untersucht und dokumentiert. So spricht man bspw. von einer »Cortison-Uhr«, weil es hier eine spezielle Tagesrhythmik mit einem morgendlichen Anstieg gibt, was sogar durch eine genetische »Uhr« (»clock gene«) bestimmt wird, die es bei allen Säugetieren gebe (Giannetto 2014, Moreira 2018). Andere Rhythmen betreffen beispielsweise die Körpertemperatur, diverse Stoffwechselabläufe oder die Produktion verschiedener Hormone, was auch zu unterschiedlichen Aktivitätsleveln führt. Solche Rhythmen passen sich oft auch an die jeweiligen Umweltbedingungen an. Ein näheres Eingehen auf solche »inneren Uhren« ist aus Platzgründen nicht möglich und soll daher einem eigenen Artikel vorbehalten bleiben. Dass aber solche »inneren Uhren« ebenfalls für das Zeitgefühl von Hunden eine wichtige Rolle spielen können, scheint jedenfalls plausibel.

Fazit
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es verschiedene Aspekte gibt, die dafür sprechen, dass Hunde ein Zeitempfinden haben, wozu also auch ein Gefühl für Vergangenes und Zukünftiges gehören muss. Diese Aspekte sind, wie gezeigt wurde, vorwiegend kognitiver Art, aber auch durch innere biologische Rhythmen beeinflusst. Eine Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema zeigt jedoch, dass die Forschung bei der Untersuchung der Zeitempfindung bei Hunden offensichtlich erst am Anfang steht. Das ist auch an der Quellenlage für diesen Artikel zu erkennen, die kaum älter als 10 Jahre ist. Und ganz tagesaktuell ist hingegen immer die Quellenlage für jedes Frauchen oder Herrchen, die mit ihrem vierbeinigen »Untersuchungsgegenstand« zusammenleben und manchmal – mehr oder weniger bewusst – ihre Erfahrungen mit dem Zeitempfinden ihres Hundes machen.
(Für einen weiteren Artikel zu diesem Thema bin ich an Ihren Erfahrungen interessiert! Schreiben Sie mir bitte: mosser@wuff.eu)

Alltagserinnerungen: Hunde verfügen über ein »episodisches Gedächtnis«

Dass Hunde über ein »episodisches Gedächtnis« verfügen, ist wissenschaftlich dokumentiert. Doch was für eine Art von Gedächtnis ist das?

Das episodische Gedächtnis wird auch als das autographische bezeichnet, weil es Episoden, also Ereignisse speichert, die uns ganz persönlich betreffen. Es gilt als ein Teil des Langzeitgedächtnisses und umfasst also konkrete persönliche Erinnerungen, von glücklichen Momenten bis zu traurigen. Diese Erinnerungen lassen sich räumlich und zeitlich aufeinander beziehen, man kann sie also in einer Art Zeitleiste einordnen. Im episodischen Gedächtnis werden also komplexe Alltagserinnerungen gespeichert, die Voraussetzung dafür sind, dass wir wissen, wo wir uns z.B. gerade befinden, was wir tun und wie wir uns dabei fühlen (Stangl 2019).
Während man früher dachte, dass das episodische Gedächtnis ausschließlich dem Menschen vorbehalten sei, gibt es bereits viele Studien, die diese Form der Erinnerung auch bei Tieren nachweisen, darunter auch bei Hunden.

Literatur

Im Text zitierte Literatur in alphabetischer Reihenfolge:

• Giannetto C.: Parallelism of circadian rhythmicity of salivary and serum cortisol concentration in normal dogs. J. Appl. Biomed. 2014. http://dx.doi.org/10.1016/j.jab.2014.01.009
• Coren S.: Wie Hunde denken und fühlen. Kosmos Verlag 2005.
• Cliff J.H.: Weber’s Law and the Scalar Property of Timing: A Test of Canine Timing. Animals 2019;9: 801–811.
• Fugazza et al.: Recall of Others’ Actions after Incidental Encoding Reveals Episodic-like Memory in Dogs. Current Biology 2016;26:3209–3213.
• Halberg F., Stephens A. N.: Susceptibility to ouabain and physiologic circadian periodicity. In: Proc. Minn. Acad. Sci. 1959,27:139–143.
• Horowitz A.: Being a dog: following the dog into a world of smell. Sribner, New York 2016.
• Macpherson, K. M.: Time, Number, Space, and the Domestic Dog. Electronic Thesis and Dissertation Repository 2018. (https://ir.lib.uwo.ca/etd/5371)
• Moreira A.C. et al.: A sense of time of the glucocorticoid circadian clock. Journal of Endocrinology 2018;179: R1–R18.
• Roberts, W. A.: Are animals stuck in time? Psychological Bulletin 2002,128(3):473–489.
• Stangl, W.: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. https://lexikon.stangl.eu/809/episodische-gedaechtnis/ (07.12.2019)
• Suddendorf, T., Corballis, M.C.: Behavioural evidence for mental time travel in nonhuman animals. Behav. Brain Res. 2010;215:292–298.

Pdf zu diesem Artikel: zeitgefuehl

 

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