Kind oder Hund?

Von Ana Hesse

Wer hat das größere Recht auf freies Leben – und wie viel Angst muss sein?

Hunde sind für Kinder eine wunderbare ­Bereicherung, aber es gibt auch Hunde, die­ ­keine Kinder mögen. Oft sind es traumatisierte ­Hunde aus dem Tierschutz, die sich nur schwer in unser Gesellschaftsleben eingliedern können. In ­diesem Artikel geht es um eine wahre Be­gebenheit, bei der ein Kind vom Nachbarshund in den Kopf gebissen wurde. Seither lebt das Mädchen – Zaun an Zaun – mit seinem „vier­beinigen Täter“ in dauernder Angst. Wer hat das größere Recht auf ein (angst)freies Leben? Das Kind oder der Hund? Wir rufen anhand ­dieses Artikels zur Diskussion auf. Lesen Sie den ­Artikel und schreiben Sie uns Ihre Meinung dazu.

Ein siebenjähriges Kind wird vom Nachbarshund zwei Mal schwer in den Kopf gebissen. Es überlebt den Angriff mit viel Glück, muss nun aber täglich mit dem Anblick des Hundes leben.

Der Hund liebt Kinder …
Die junge Familie hat das Haus vor einem Jahr gekauft. Im ­Nachbarsgarten lebt der sechs Jahre alte, große Doggen­mischlingsrüde, nennen wir ihn Knud, tagsüber die meiste Zeit an einer Kette. Die allein lebende Halterin ist dem Kraftpaket nicht gewachsen, so dass sie seit langem nicht mehr mit ihm spazieren geht. So lastet sie den 70 cm großen Hund im Garten über Ball- und Stöckchenspiele aus. Als die junge Familie nebenan einzieht, scheint es eine nette Entwicklung zwischen den Nachbarn zu geben. Man grüßt sich, spricht miteinander, häufig auch über den Zaun. Im Garten der Familie wird ein Trampolin errichtet und ein Spielturm. Da sitzt Knud nun oft und sieht der 7-Jährigen beim Spielen zu. Das Interesse an dem Kind deutet die Halterin als „Kinderliebe“ und lädt die Familie zu sich in den Garten ein. Die Mutter ist skeptisch, denn ihr ist der große Rüde nicht geheuer. Die Halterin bleibt hartnäckig bei ihrer Einladung und so gehen Vater und Tochter in den Nachbarsgarten zu Doggenmischling Knud. Knud, der eben noch seinen neuen Ball in Fetzen riss, scheint sich über den Besuch zu freuen.

Die Halterin animiert das Mädchen, dem Hund Stöcke zuzuwerfen. Das würde er lieben. Aber es müsse immer ein anderer Stock sein, denn er gibt den eigentlichen nicht mehr her. Nach zwei, drei Mal Werfen bekommt das Mädchen doch etwas Angst vor dem Hund. Als er auf sie zugerannt kommt, tritt sie hinter den Vater und sucht Schutz, dabei stolpert sie, fällt zu Boden und – da ist Knud. Ohne einen Mucks beißt er ihr unvermittelt in den Hinterkopf, lässt los und verbeißt sich in den Seitenschädel. Er lässt nicht mehr los. Kein Knurren, kein Laut ist von Knud zu hören. Das Kind schreit, weil es weh tut, der Vater packt dem Hund geistes­gegenwärtig in den Fang und befreit sein Kind, das schwer verletzt ins Krankenhaus kommt.

Maulkorb, Leinenzwang, Hausarrest
Das Kind überlebt den Angriff des Hundes schwer verletzt. Inzwischen heilen die Narben am Kopf langsam ab, doch die Angst wächst jeden Tag. Die Eltern des Kindes haben alle notwendigen Behördenschritte eingeleitet. Von Seiten der Nachbarin aber kommt weder eine Entschuldigung noch Rückfragen zum Gesundheitszustand des Kindes. Der Amtsveterinär kommt, begutachtet den Hund und stellt nach dem NHundG (Niedersächsisches Gesetz über das Halten von Hunden) einen „gefährlichen Hund“ nach Sachlage fest. Er ordnet Maulkorb- und Leinenzwang, sowie Hausarrest an, weil der Garten nicht komplett eingezäunt und der Zaun zum Nachbarsgrundstück zu niedrig ist. Als Auflage erhält die Halterin zudem, den Zaun zu erhöhen. Ein Wesenstest wird angeordnet.

Zwei Monate später ist der Zaun nicht erhöht und die Halterin trainiert, vor den Augen der jungen Familie, im Garten mit dem Hund, ohne Leine, für den Wesenstest. Ein Albtraum für das Kind! Aber auch für die Mutter, die vom eigenen Grundstück aus hilflos das Geschehen mit ansehen musste, und den Vater, der sein Kind aus dem Fang des Hundes befreite und heute noch „die Zähne an seinem Arm spürt“. Anzeigen bei Polizei und Veterinäramt, wegen Verstoßes gegen die Auflage, fruchten nicht sofort. Die Familie schaltet einen Anwalt ein.

Einen freiwilligen Termin zur Einschläferung des Rüden sagt die Halterin einen Tag vorher ab, weil er ja sonst lieb und nicht aggressiv sei. Sie lehnt auch die Abgabe des Tieres kategorisch ab, ihn in einem Resozialisierungsprogramm unterzubringen mit anschließender Vermittlung in fachkundige Hände. Im Rahmen des NHundG muss der Wesenstest innerhalb von drei Monaten nach Anordnung nachgewiesen werden. Auf Antrag kann die Frist verlängert werden. Besteht der Hund den Wesenstest, besteht auch die Möglichkeit einer Maulkorb- und Leinenbefreiung. Inzwischen ist die Auflage gelockert, denn der Hausarrest verstößt gegen das Tierschutzgesetz. Der Hund darf zum Lösen nach draußen und auch für den Wesenstest im Garten üben. Maulkorb und Leine als Sicherheit genügen, so die Behörden. Das Gesetz in Niedersachsen sieht offenbar keine Inobhutnahme des Hundes vor. Seitdem es verboten ist, Hunde verhaltensbedingt zu euthanasieren, bleibt die Frage offen – wohin mit so einem Hund? Die Tierheime sind voll und mit einem gefährlichen Hund meist überfordert, denn kommt ein gefährlicher Hund ins Tierheim, darf nur die Person den Hund führen, die im Besitz der Sachkunde nach §11 TSchG ist. In der Regel ist das die Tierheimleitung. Eine Verpflichtung der Tierheime, einen gefährlichen Hund aufzunehmen, gibt es offenbar nicht.

Eine unerträgliche Situation für Kind und Hund
Das Mädchen erhält nach einem Kranken­hausaufenthalt kinderärztliche und psychologische Betreuung sowie Ergotherapie. Die seitliche Schädelnaht schmerzt. Manchmal hat sie starke Kopfschmerzen. Körperlich und psychisch wird ihr jede erdenkliche Hilfe zuteil. Doch das angstbesetzte und angstauslösende Tier lebt weiterhin nebenan und kann jederzeit „das zu Ende bringen, was es angefangen hat“, so die Angst des Kindes und der Eltern. Das Haus der Nachbarin hat zur Straße hin keinen Zaun, und wenn diese das Haus verlässt, könnte Knud jederzeit an ihr vorbei nach draußen gelangen. Der Zwischenzaun ist bis heute, über zwei Monate nach dem Geschehen, nicht erhöht. So sitzt der Vater, mit Mist­gabel und Axt bewaffnet, angespannt im Garten, während seine Tochter versucht fröhlich das zu tun, was sie vor dem Hundebiss immer getan hat – Trampolin springen, auf dem Kletterturm spielen oder im Hof Fahrrad fahren. Doch der ängstliche Blick wandert immer wieder zum Zaun …

Während das Kind versucht einfach weiter zu leben, hat die Halterin den Kontakt zu der Familie abgebrochen. Sie hat angekündigt, nicht mehr mit ihnen zu sprechen. Beim letzten Kontakt bekräftigte sie jedoch, dass der Hund bleiben wird, egal, wie sich das Kind dabei fühle. Inzwischen stellt sie auch die Behauptung auf, dass das Kind mit seinem Geschrei beim Spielen im Garten den Hund ganz verrückt gemacht habe. Er sei durch den Lärm gestresst. Bleibt die Frage offen, warum sie dann eine Einladung aussprach? Bei all‘ der Angst des Kindes und der Eltern – was bedeutet so ein Leben für den Hund? Vorher ein Leben im Garten, an einer etwa sechs bis sieben Meter langen Kette. Kein Kontakt zu Artgenossen und kein weiterer zu anderen Menschen. Dann der Hausarrest und noch weitere Isola­tion?! Die Situation ist für Kind und Hund unerträglich und eine Lösung scheint noch nicht in Sicht. Während die Eltern nun den rechtlichen Weg beschreiten, der erfahrungsgemäß ein langer ist, können sie nichts weiter tun, als sich immer abzusichern, wenn sie das Haus verlassen oder in den Garten gehen. Angstfrei wohnen, mit diesem Hund an der Seite, gibt es nicht mehr.

Wer hat das größere Recht auf freies Leben?
Während Tierschützer den Hund retten wollen, werden andererseits Stimmen laut, es müsse schärfere Gesetze geben, Menschen vor Hundeattacken besser zu schützen – nach Individuum und nicht nach Rasse! Zu den Forderungen zählt auch, einen Hund, der in solch schwerem Maße einen Menschen geschädigt hat, einzuschläfern. Den Behörden sind einstweilen die Hände gebunden. Sie müssen sich an die Vorgaben des Gesetzes halten. Doch wie viel Angst muss ein Mensch ertragen, bis eine Entscheidung der Behörden über den Verbleib des Hundes fällt? Und was macht das lange Warten und das Festigen der Angst jeden Tag aufs Neue mit ihm?

Wie viel muss der Hund erdulden, der das Haus einstweilen nicht mehr ver­lassen durfte? Die Haltung im Garten an der Kette war bis dahin auch nicht wirklich artgerecht, selbst wenn die Länge der Kette offenbar tierschutz­konform war. Und wer kann die Verantwortung für ein Tier übernehmen, welches so ernsthaft und so schwer beschädigt hat, und zusichern, dass so etwas nicht wieder passiert? Auch und insbesondere dann, wenn der Wesenstest ­bestanden wurde? Macht das Bestehen eines Wesenstests den Vorfall ungeschehen und die Verletzungen damit weniger schlimm?

Ein großes Dilemma, an dem sich die Meinungen der Menschen sehr stark scheiden. So bleibt die Frage: Wer hat das größere Recht auf „freies Leben“? Schreiben Sie uns Ihre Meinung zu diesem Thema an redaktion@wuff.eu.

Pdf zu diesem Artikel: kind_oder_hund

 

Das könnte Sie auch interessieren: